„Ich habe mein Leben verloren“, sagt der Schauspieler, während er auf einigen Grünflächen beim Donaukanal Samen ausstreut und mit Wasser aus einer Plastikflasche gießt. Als ich ihn vor einigen Tagen dort zum ersten Mal sah, erkannte ich ihn sofort. Er hatte in einem meiner Lieblingsfilme einen arbeitslosen Lehrer gespielt, der in ein Obdachlosenasyl hatte ziehen müssen.
„Ich habe mein Leben verloren“, wiederholt er und setzt sich neben mich auf eine Bank in die glühende Sommersonne. „Eines Tages bin ich nach dem Dreh nachhause gekommen und habe meine Eingangstüre nicht mehr aufsperren können.“ Die Schlösser seien ausgetauscht worden, in der Wohnung habe bereits eine fremde Familie gewohnt, während von seinem früheren Leben keine Spur mehr übriggewesen sei. Jeder Hinweis auf seine eigentliche Existenz sei wie Wasser im heißen Sand versiegt.
„Niemand erinnert sich mehr an mich“, sagt er. „Ich bin für alle nur noch die Rollen, die ich gespielt habe, nicht mehr der Mensch dahinter.“
Er sei stolz darauf gewesen, sich bis zur Selbstaufgabe in einer Rolle zu verlieren, um diese bis in den letzten Winkel ausfüllen zu können. Er habe Drogen konsumiert, um einen Süchtigen zu spielen, sich mager gehungert oder Muskelmasse antrainiert und Instrumente und Fremdsprachen gelernt, um das Publikum in die Wirklichkeit seiner Rollen hineintäuschen zu können. Das Wichtigste sei allerdings immer gewesen, anschließend wieder aus dem zurechtgezimmerten Leben der Figuren herauszufinden. Bloß sei ihm das irgendwann offenbar nicht mehr gelungen, woraufhin die Realität ihn aus ihren Weiten getilgt haben dürfte.
Einige Passanten werfen dem Schauspieler im Vorbeigehen Blicke zu, die irgendwo im diffusen Raum zwischen Interesse und Abneigung verortet sind. Glücklicherweise scheinen sie dabei seinen strengen Körpergeruch nicht zu riechen, der unbarmherzig zwischen den Fasern seiner sonst sorgsam gepflegten Kleidung hervordringt.
„Gelegentlich erkennen mich Menschen noch in anderen Rollen“, sagt er und nimmt einen Schluck Wasser aus seiner Plastikflasche. „Diese Rollen sind alles, was mir geblieben ist. Ich ziehe sie mir an wie alte Kleider, stülpe mir den Elfenkönig der Theaterbühne über oder den Gitarristen aus dem Roadmovie. Aber aus ihren Leben kann ich mir nur kurze Momente borgen.“
Der Schauspieler schüttelt den Kopf und meidet meinen Blick. Wohin, fragt er, sollen ein Musiker, dem man Band und Bühne, ein General, dem man die Gefolgschaft, und ein Elfenkönig, dem man sein Königreich entrissen hat, denn gehen? Ihm bleibt nur die kleine Welt des obdachlosen Lehrers, die er zuerst innerhalb der Filmminuten bewohnt hat und in der er nun Zuflucht suchen muss.
„Weil ich mein Leben verloren habe“, sagt er, als er aufsteht, um sich wieder seinen Samen zuzuwenden.
© Stephan Kaiblinger 2021-04-27