von Stella
Es gibt Menschen, die gibt es eigentlich gar nicht mehr. Wie jene Altmetallsammler mit ihren Pritschenwagen. Wenn sie mit ihren Melodien ihr Kommen ankĂŒndigen, ĂŒberfĂ€llt mich spontan die Freude des Kindes, das staunend vor einer Jahrmarktattraktion stehen bleibt.
Drehorgelspieler gehören auch dazu. Wenn sie in der Nachmittagsstille mitten durch die mehrstöckigen WohnhĂ€user ziehen, wo wir einst wohnten. Und sich vereinzelt Fenster öffnen, mit Menschen, die vom Leierkasten ĂŒberrascht, den Liedern lauschen und ein paar Euro hinunter werfen. Was ich ihnen gleichtue, indem ich einige MĂŒnzen in Papier einwickle und aus dem dritten Stock vor den Eingang fallen lasse. Wo der Drehorgelspieler das PĂ€ckchen aufsammelt und sich mit einem Blick nach oben bei mir bedankt.
Auch am Rhein begegne ich immer wieder Menschen, die geradewegs einem Haufschen MĂ€rchen entstiegen zu sein scheinen. Wie der alte drahtige Herr, dessen weiĂes Haar so sehr von seiner braun gegerbten Haut absticht, die zeigt, dass er sich viel im Freien aufhĂ€lt, vielleicht sogar dort lebt. Mit seinem Fahrrad zieht er einen aus Sperrholz zusammen gezimmerten HĂ€nger, in dem er allerhand Hausrat, Werkzeuge und CampingstĂŒhle transportiert. Und ĂŒber allem flattert ein buntes FĂ€hnchen. Mitten durch die Menschenmenge kommt er einmal auf der Promenade auf mich zu und spricht mich an:
âIch möchte Ihnen ein MĂ€rchen erzĂ€hlen!â
Ich hĂ€tte mich kaum gewundert, wenn plötzlich âDer kleine Muckâ aus seinem HĂ€nger gestiegen wĂ€re oder âKalif Storchâ darauf gelandet. Ich Ă€rgere mich heute noch, dass ich nicht stehen geblieben bin, um sein MĂ€rchen zu hören, sondern lachend weitergeeilt. Wer hat schon das GlĂŒck, einem MĂ€rchenerzĂ€hler zu begegnen?
Der Scherenschleifer dagegen steht regelmĂ€Ăig vor unserer TĂŒr. Ein groĂer schwerer grauhaariger Mann mit SchnĂ€uzer vom Format eines BĂ€nkelsĂ€ngers. Mit lautem Singsang im Kölschem Dialekt preist er seine Dienstleistung an:
âMesser, Scheren, RasenmĂ€her!â
Als er das letzte Mal meinen Biedermeier-SekretĂ€r entdeckte, erzĂ€hlte er mir, dass er selbst einmal mit antiken Möbeln gehandelt habe. Im Hof seines Onkels hĂ€tte er sie gelagert. Sein Onkel sei ein berĂŒhmter naiver Maler gewesen. Einmal habe er von einer alten Dame zum Dank ein Bild eines sogenannten Zakharovich geschenkt bekommen. Sie hĂ€tte das Bild von einer jĂŒdischen Familie, die sie vor den Nazis beschĂŒtzte. Dass es sich bei Zakharovich um Marc Chagall gehandelt habe, hĂ€tten sie per Zufall erfahren. Eigentlich hĂ€tte sein Onkel ihm, seinem Lieblingsneffen, das Bild vermachen wollen. Aber der Sohn des Malers habe nach dem Tod alles fĂŒr sich beansprucht und verkauft.
Der Scherenschleifer ist ein guter GeschichtenerzĂ€hler, dachte ich. Aber glauben tue ich ihm nicht. Bis ich im Internet ein Foto seines Maler-Onkels finde. Dem Scherenschleifer wie aus dem Gesicht geschnitten. Und: Marc Chagall, fand ich heraus, nannte sich tatsĂ€chlich frĂŒher Mark Zakharovich Shagal.
© Stella 2019-08-06