Der Schleier des Nichtwissens

Sieben körperlose Geister schwirren im Himmelreich Gottes umher, vor der vergoldeten Pforte des Lebens darauf wartend, in Fleisch und Blut gesteckt zu werden. Am Höhepunkt ihrer Ungeduld, endlich auf Erden wandern zu dürfen, öffnet sich das Tor und ein bebrillter Anzugträger erscheint. Die Worte „John Rawls“ zieren sein laminiertes Namensschild.
Rawls: „Na? Bereit für die finale Besprechung?“
Geist(1): „Wovon reden Sie? Eine solche Tagung ist laut dem Vertrag, den mein Anwalt mit Gott aushandelte, nicht vorgesehen. Paragraf 16 meiner Einigung besagt, dass meine Seele, nachdem Gott sie geschaffen hatte, unverzüglich einem organischen Leib eingepflanzt werde.“
Rawls: „Aber die Geschäftsbedingungen änderten sich soeben, weshalb Ihr Abkommen an Gültigkeit verliert. Steht im Kleingedruckten.“
Geist(1): „Worin liegen denn die Neuerungen?“
Rawls: „Aufgrund zahlreicher menschlicher Beschwerden und Klagen gegen Gott beschloss er, auf die Unruhen einzugehen. Dank meines irdischen Verdiensts im Auftrag der Philosophie verlieh der Schöpfer mir den Orden des Gerechtigkeits-Ministers, dessen Ziel darin besteht, eine Welt der Fairness zu entwerfen. Hierfür benötige ich repräsentative Studien, wobei Sie mir helfen werden. Denn Sie blicken durch einen Schleier des Nichtwissens. Ihnen wird vorenthalten, welche physischen und kognitiven Fähigkeiten Ihnen zu Eigen werden. Darauf aufbauend sind Sie aufgefordert, innerhalb Ihrer Gruppe gerechte Regeln einer funktionierenden, fairen Gesellschaft zu ergründen.“
Geist(1): „Wozu die Umfrage, wenn die Lösung des Problems auf dem Silbertablett schmort? Der Schlüssel zur perfekten Welt besteht in der Gleichverteilung der Ressourcen und Chancen.“
Geist(2): „In Fusion mit identischen Merkmalen. Unter gleicher Bedingung wäre ein Querschnittsgelähmter stets benachteiligt, würde er im Triathlon gegen Kerngesunde antreten.“
Geist(3): „Ähnliches trifft auf psychische Eigenschaften zu. Ein einheitlicher IQ-Test wird andernfalls viel besser von Klügeren bewältigt. Dumme hingegen schneiden minder gut ab.“
Geist(1): „Blödsinn! Die Vielfalt ginge verloren! Wir würden keine Menschen, sondern Kopien eines Einzelnen erstellen. Daher sei folgender Gegenvorschlag angebracht: Klassengesellschaft. Querschnittsgelähmte dürfen ausschließlich gegen Querschnittsgelähmte antreten. Ungeachtet dessen sind die Klassen dazu verpflichtet, sich gegenseitig auf die Beine zu helfen. Egoismus trifft auf absolute Intoleranz.“
Geist(7): „Ist deine Idee tatsächlich gerecht? Wir wissen zwar, dass die jetzige Welt ungerecht ist, aber wie eine gerechte Welt aussieht, wissen wir nicht. Wie dürfen wir nun von Gerechtigkeit sprechen, wenn uns jegliche Ahnung fehlt, wie wir uns allgemeine Gerechtigkeit vorstellen?“
Rawls: „Ihre Zeit ist abgelaufen. Ihr müsst jetzt von uns gehen. Ihre Körper stehen bereit. Zu Ihrer Beruhigung sollte beitragen, dass ich gewillt bin, mehrere Ihrer Ideen zum Schaffen eines gerechten Lebens exakt anzuwenden.“
Zu der Enttäuschung der sieben Seelen erwachen sie nicht auf einem gerechten Planeten, sondern werden in eine verarmte, ausgebeutete Familie Chinas hineingeboren; verdammt, der modernen Sklaverei zu erliegen und massenweise Textilien weiterzuverarbeiten. Im Glanz des mit Kindspech versetzten Fruchtwassers vernehmen die Seelen kurz nach Ihrer Geburt eine erhabene, geistliche Stimme: „Ich weiß, euer künftiges Leben wird kein Zuckerschlecken. Zu meiner Verteidigung: Ich sprach darüber, eine gerechte Welt zu schaffen; nicht, dass sie für euch bestimmt ist. Grüße, John Rawls.“