von Hannah Trapp
Die nächste, potentielle Version von mir lässt mich schmunzeln. Ich habe mir Rasterzöpfchen gemacht. Wenigstens stecke ich wieder in einer Rock ´n´ Roll-Kutte. Die sieht allerdings aus, als hätte sie ihre besten Zeiten hinter sich. Und sie ist ärmellos. Meine Arme sind bis oben tätowiert. Ich mag das. Als Lehrerin hätte ich das nicht gekonnt, denke ich. Dann sehe ich entgeistert dabei zu, wie ich mir eine Kippe anstecke. Wo bin ich da nur? Auf einem Balkon. Ich bin ratlos. „Hannah, da bist du!“ Ein junger Hüpfer kommt zu mir auf den Balkon. Er hat Tunnel in den Ohren und ebenfalls viele Tattoos. „Wir mussten dem Heiner Hausverbot geben“, sagt Tom – mein Kollege. Wir sind Sozialarbeiter. Jetzt verstehe ich es. Ich habe soziale Arbeit studiert. Mein Wunsch, die Welt zu verbessern, hatte konkrete Ansatzorte gefunden. Ich hatte ein Haus für Nürnbergs Obdachlose gegründet. Ich starre meinen jüngeren Kollegen entsetzt an. Die Information bricht mein Herz. Mit Heiner habe ich sehr eng zusammengearbeitet. Aber ich kann mir denken, was vorgefallen ist. Heiner ist Alkoholiker. Und wird aggressiv vom Alkohol. „Er hat sich wieder geschlagen“ „Aber-“, beginne ich. „Er wusste, was er tut. Er wusste es genau“, unterbricht Tom mich. Mit Härte in der Stimme. Er ist der sozialste Mensch der Welt, aber hart wie Stein, wenn es drauf ankommt. Ganz im Gegensatz zu mir, die nie ohne Tränen heimgehen kann. „Du kannst nicht allen helfen, das weißt du“, erinnert er mich. Klar. Ich hatte das Ganze studiert. Gewusst, was mich erwartet. Und mich trotz allem dafür entschieden. In meinem Studium war ich Jahrgangsbeste gewesen. Hatte Förderungen bekommen. Und es geschafft etwas aufzubauen – nicht allein, klar. Papierkram lag mir noch nie. Darum muss ich mich zum Glück nicht kümmern. Dennoch nistet sich immer mehr das Gefühl in mir ein, dass mein Job mich kaputt macht. Obwohl er mich ja so erfüllt. Ich schweige Tom an und rauche gleich eine zweite Zigarette. „Du kannst ja trotzdem mit ihm reden, wenn du unbedingt willst. Vielleicht schafft er es anderswo“, lenkt Tom nach einer Weile ein. Er kennt mich. Er weiß, dass ich Heiner suchen werde. Und er unterstützt mich. Er ist voller Energie. So wie ich in seinem Alter. Ich habe ihn gern um mich. An manchen Tagen überlege ich, ob Tom und ich uns privat treffen sollten. Ich hatte mich jahrelang in meine Arbeit gestürzt und niemanden kennengelernt. Ich hatte es hier und da sporadisch versucht. Mit Männern und auch Frauen. Aber nirgendwo hatte es gefunkt. Tom ist zu jung für mich. Ich seufze wieder. „Ich muss ihn suchen. Später. Erstmal müssen wir hier weitermachen…“ „Ja“, sagte Tom „Ich kann dir nachher helfen. Aber denk dran: Dieses Haus betritt er nicht mehr!“ Seine Stimme hart wie Stein.
© Hannah Trapp 2023-04-15