von Simone Harre
“… jetzt ist die letzte Stunde angebrochen und ich bin so weit weg von Dir, sehe Dich nur durch das 32. Fach der ersten Sortierung schräg hinten. Dabei liebe ich deine Anwesenheit so… wenn Du neben meinem Spint stehst und deinen unendlichen Charme versprühst und ich liebe deine Augen, die für ein Bruchteil von Sekunden ganz groß werden – mich fast verschlingen wollen-, wenn ich etwas erzähle und du nicht weißt, ob du es mir glauben sollst oder nicht. Ich liebe deinen Mund, der, wenn du mich ansiehst, zuerst auf der rechten Seite grinst und dann nach und nach deine wunderschönen Zähne zeigt. In diesem Moment könnte ich dich knutschen. Ich liebe deine Art, so zart und vorsichtig, wenn du versuchst mich aufzumuntern. Ich liebe deine Traurigkeit, die trotz aller Melancholie von einem Funken Glück oder wenigstens Hoffnung getragen wird. Ich liebe deine Pracht auf deinem Köpfchen. Ich liebe deinen Biß ins Marmeladenbrot, der höchstens halb so groß ist wie meiner. Ich liebe deinen Namen, der genau diese südliche Wärme hat, die du ausstrahlst. Ich liebe deine bunte Hosenvielfalt und deinen schwankenden Gang durch das Spintmeer und ich liebe dein Muttermal, dass so zart und künstlerisch fast an der selben Stelle sitzt wie meins. Ich liebe dein verknautschtes Gesicht am frühen Morgen und ich liebe diese Post, wo ich dich kennengelernt habe….”
Quando te veo, mi Corazon pulpita como una potata frita.
Burghard, Briefzentrum Hochdorf, 17.11.1995
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Selten bekam ich vergleichbare Worte wie diese. Zugesteckt auf einem abgerissenen Umschlag eines Langbriefes, heimlich, nebenbei… Niemals folgte diesen so innigen Worten Nähe. Und immer fragte ich mich, wie kann ein Mensch so unendlich zärtlich jedes Detail finden, wie viel Liebe muss darin sein… und gleichzeitig niemals echte Avancen machen… Burghard war ein junger Student wie ich. Wir haben viel zusammen gelacht. Ich mochte sein heiteres Temperament. Beide arbeiteten wir in der Post und sortierten Briefe. Er die langen, ich die kurzen.. Das war damals sehr lukrativ. Wenig später lud er mich zu einer Party ein, ich weiß es noch genau… denn er sprach kein Wort mit mir. Er hatte eine Freundin. Seltsam, die Menschen. Seltsam, die Liebe. Ein Brief, von solcher Schönheit und Gesehenwerden, den sich jeder innigst wünscht, und doch ohne Absicht.
Bis heute hüte ich diese Zeilen. Der Schreiber hat mir ein Geschenk gelassen, das er selbst sicher vergessen hat. Aber wer weiß. Vielleicht auch nicht.
© Simone Harre 2022-10-22