von Daniel Gumprich
„Todesursache: Überarbeitung“, sagte Hades.
„Überarbeitung ist keine Todesursache“, widersprach Rosa. So viel musste ein Anwalt definitiv wissen.
„In der Welt der Sterblichen hättest du recht. Sterbliche reden bei Todesursachen immer über Umstand und Art des Todes. Das wäre in deinem Fall übrigens Unfall und Verbluten. Deine Todesursache, also der tatsächliche Grund, der zu deinem Tod geführt hat, war jedoch Überarbeitung.“
„Was wird aus meinem Mandanten?“, fragte Rosa eindringlich.
„Für die Toten sind die Angelegenheiten der Lebenden irrelevant“, sagte Hades kühl. Mit einem lässigen Schlenker seiner Hand wechselte der Saal wieder in seine vorherige Erscheinungsform.
„Nein, ich muss es wissen!“, beharrte Rosa. „Könntet Ihr es nicht in Erfahrung bringen, Euer Ehren?“
Der Totengott schenkte ihr einen mörderischen Blick. Bedrohlich zischte er: „Ich könnte es erfahren, aber erstens verbieten die Gesetze des Gerichts deine Kenntnis, zweitens wird dein Urteil dadurch nicht beeinflusst und drittens will ich nicht zweihundert Jahre Überstunden erreichen!“
Rosa war nicht der Typ, um klein beizugeben, aber sie wusste es besser, als Streit mit einem Richter anzufangen.
„Also!“, bellte Hades und richtete sich gestrengt auf. „Deine Seele soll gerichtet werden!“ Er griff nach der Akte, die … Moment! Woher kam die Akte? Noch vor Sekunden war die Kanzel leer gewesen. Mit müder Routine überflog der Richter den Inhalt. „Kabala, Rosalie … Mensch … erstes Leben … 35 Jahre … Überarbeitung … gut. Sehen wir mal nach den Sünden.“ Er blätterte weiter. „Am schwerwiegendsten: Aktenveruntreuung. Du hast mehrmals Akten verlegt, die du nach Hause mitgenommen hast. Das gleich … ganze zwanzig Mal.“ Hades nickte beifällig.
Rosa verkniff sich den Kommentar: Es war nie absichtlich passiert, aber das war wohl egal. Als sie noch lebte, hätte die Absicht für den Richter auch keinen Unterschied gemacht.
„Sonst nur die kleinen Sünden“, leierte Hades weiter. „Falschparkerei … Gefluche … ha, ‚permanentes Ausleihen‘! Das ist die schönste Umschreibung für ‚eingesteckt und vergessen‘, die es überhaupt gibt!“
„Das ist eine Sünde, Euer Ehren?“
„Technisch gesehen ist es Diebstahl. Praktisch ist es keine Absicht. Also wird es als kleine Sünde gewertet. Aber sonst?“ Hades hörte auf zu blättern und sah Rosa an. „Bislang fast ein Bilderbuchleben. Als Nächstes kommen deine Tugenden.“ Er senkte seinen Blick wieder in die Akte. „Am meisten sticht dein Sinn für Gerechtigkeit hervor. Dann hast du auch noch selten werdenden Altruismus bewiesen …“
Plötzlich runzelte der Richter seine Stirn. „Lese ich das richtig? Du bist jedem ungerechten Urteil nachgejagt, um es zu retten? Auf Selbstkosten?“
„Ja, Euer Ehren“, sagte Rosa. Es stimmte, sie hatte jedes Urteil angefochten, bei dem sie ein falsches Gefühl bekommen hatte. Es war ihr falsch vorgekommen, Leute leiden zu lassen, weil sie bei ihrer Arbeit geschlampt hatte.
Hades sah immer noch ungläubig aus, als er die Akte … nicht von der Kanzel runterfegte, weil sie noch verschwand, bevor sie fallen konnte. „Ohne weitere Umschweife zu deinem Urteil.“
„Was?“ Das ging jetzt aber arg schnell! Hatte Rosa nicht viel mehr in ihrem Leben getan?
© Daniel Gumprich 2024-07-03