Der Smoking

Bernd Schreiber

von Bernd Schreiber

Story

Marion und ich wollten mit zwei sehr gut befreundeten Paaren Silvester mal woanders feiern. Bozena ist Polin und schlug Wroclaw vor. Gelesen wie gehört dachte ich, es geht wohl nach Warschau, aber es heißt Breslau. Bozena stellte ein tolles Programm zusammen: Silvester im altehrwürdigen Breslauer Opernhaus. Erst gäbe es die Fledermaus (nur als Aufführung), danach ein großes Silvestermenu und schließlich könnten die Gäste auf der Opernbühne ins neue Jahr tanzen. Mit Festgarderobe. Feiner Zwirn also.

Bozenas Mann Reimund stellte fest, dass er keinen balltauglichen Zwirn hatte. Ich schon, sogar zwei. Als mein Vater verstarb, erbte ich seinen Smoking. Der war wie neu. Ich probierte ihn an, oben passte er, unten sah er wegen der zu kurzen Hosenbeine aus, als hätten wir Hochwasser zu Hause. Egal, ich behielt ihn, sei es als Erinnerung. Da ich aber ab und zu selbst zu ballähnlichen Festivitäten durfte/konnte/musste, hatte ich mir noch einen passenden eigenen Smoking zugelegt.

Warum Papas Erbstück nicht Reimund als Notlösung anbieten? Ich war mir nicht sicher, denn es ist vielleicht nicht jedermanns Sache, die getragenen Sachen eines Toten anzuziehen. Reimund war nicht abgeneigt. Als er uns besuchte, holte ich den Smoking aus dem Kellerschrank für selten Getragenes und er probierte ihn an. Zu meiner Überraschung war er begeistert. Ich musste zugeben, der saß wie angegossen, hatte immer noch einen modernen Schnitt (wahrscheinlich sind die Dinger zeitlos) und wurde wohl von einem seinerseits favorisierten Schneider genäht, wie Reimunds anerkennender Blick auf den Hersteller vermuten ließ. Nur was die Hosenbeine bei mir zu kurz waren, waren sie bei ihm zu lang. Er sollte sie kürzen und könnte den Smoking behalten. Ich „vererbte“ ihm mein Erbstück.

Kurz vor Silvester stellte Marion fest, dass sie kein passendes Kleid hatte. Sie würde das kleine „Notschwarze“ mitnehmen und in Berlin bei einem halben Tag Zwischenaufenthalt ein neues Ballkleid kaufen. Was ich das liebe, auf den letzten Drücker durch Kaufhäuser zu hetzen.

Wir packten für die Abreise. Ich wollte meinen Smoking aus dem Schrank nehmen. Keiner da. Ich lief in den Keller, wo auch keiner war. Plötzlich dämmerte es. Das “Erbstück” hatte so einen modernen Schnitt und war von einem aktuellen Hersteller, weil … weil es mein eigener war, den ich Reimund geschenkt hatte. Vaters hatten wir wohl doch schon vorher weggegeben.

Ich rief Reimund an, der sich nochmals herzlich für den nach der Kürzung super passenden Smoking bedankte. Kleinlaut sprang ich auf Marions „Noteinkaufs-Zug“.

Beim Betreten eines Kaufhauses in Berlin sah Marion als Erstes eine Schaufensterpuppe mit einem Ballkleid. „Wenn es das in meiner Größe gibt, nehm‘ ich’s“, entschied Marion. Gab es. Sie war in 15 Minuten fertig, während ich bis kurz vor Ladenschluss genervt x Hosen und Jacken probierte, bis mir ein Smoking halbwegs passte.

Es wurde trotzdem eine (be-)rauschende Silvesternacht in Wroclaw.

© Bernd Schreiber 2022-02-05

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