von Judith Lahfeld
Es ist nachts um halb vier, als ich das letzte Mal auf die Uhr schaue. Die Morgendämmerung bricht an und ich blinzle müde durch meine mascaraverschmierten Augen. Zum Abschminken hat die Kraft heute nicht mehr gereicht. Meine Kleidung klebt an mir, wie Zuckerwatte an den Lippen nach einem Besuch im Zirkus. Es ist ein Sonntag im August. Mein Körper sehnt sich nach meinem Bett und schreit nach Schlaf. Die ganze Nacht wurde viel getrunken, im Hintergrund lief wie immer Musik. Wieder einmal wurde es viel zu spät, zwischenzeitlich gab es sogar Tränen. Eine lange Nacht liegt hinter uns. Aber es ist ja Wochenende, da kann man schon mal länger machen.
Es ist diese ungewohnte Ruhe, die mich trotz all der Erschöpfung noch nicht schlafen lässt. Einmal kurz die Stille aufsaugen, einfach nur dasitzen und atmen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich und ich blicke auf den Menschen, der dort vor mir auf dem Bett liegt. Er ist es. Der mich durchhalten lässt. Ich betrachte mit Schmetterlingen im Bauch die schwarzen langen Wimpern und die verschwitzten Locken, die sich durch die schwüle Sommerluft in seinem Nacken kräuseln. Ich bin mir sicher, es ist pure und unbefleckte Liebe. Wir tanzten uns durch die letzten Stunden, er in meinem Arm und ich irgendwie auch in seinem. Wir sangen unsere Lieder. Spielten unser ganz persönliches Mix-Tape, den Soundtrack unserer Jugend. Oder vielleicht auch nur seiner.
Die wilden Zwanziger sind bei mir definitiv vorbei. Aus „Auf geht’s, ab geht’s, drei Tage wach“ wird nun „Atemlos durch die Nacht“, denn ich reihe mich langsam aber sicher in die Gilde der Mittdreißiger ein. Und da liegt nun dieser junge Spund, der mir trotzdem das Gefühl gibt, dass meine fruchtbaren Jahre noch nicht abgelaufen sind. Noch nicht. Denn während Clubtouren eigentlich aufgrund meiner aktuellen Lebenssituation schon fast passé sind, bleiben Wörter wie Menopause doch noch eine Generation entfernt. Dieser Gedanke hält mich jung. Jünger, als ich mich eigentlich gerade fühle. Ich wische ein bisschen Erbrochenes von meiner Schulter. Im selben Moment dreht er sich auf die andere Seite und greift mit seiner kleinen Babyhand nach der seines Papas. Der auch schon kapituliert hat und mit genau den gleichen schönen schwarzen Wimpern bereits im Land der Träume auf mich wartet.
Vater und Sohn, einer schöner als der Andere. Mein letzter Gang führt mich in das Zimmer meiner Tochter, die mit weggestrampelter Decke wie ein Engel daliegt. Ich gebe ihr einen Kuss auf den warmen Kopf, der nach Sonne und Prinzessinnenshampoo duftet. Und nach einem verheißungsvollen Sonntag mit Eiscreme im Garten. Bevor ich das vierte Mal wieder in mein Bett steige, atme ich ein letztes Mal durch. Mich fragend, ob ich heute noch einmal Kinderlieder singen oder ausgespuckte Milch wegwischen muss, bevor der erste Kaffee auf mich wartet. So sehen meine Partynächte aus. Kreuzberger Nächte sind lang. Die von einer Mama aus der Berliner Vorstadt ebenfalls.
© Judith Lahfeld 2022-08-06