Der Spitz ist weg

Wolfgang Schinwald

von Wolfgang Schinwald

Story

In der Krise kann sich einer wie ich, für den ohnehin keine Frisur-Auswahl besteht, leicht selbst die Haare schneiden. Also den Bartschneider auf 12mm eingestellt und über der Badewanne einfach losgefräst. Gefühl ist alles. Sonst kann sogar eine Quarantäne zu kurz werden. Der Blick in den Spiegel ist, zumindest was den Haarschnitt betrifft, kein Schock. Ich bin stolz. Her mit dem Handy, ein keckes Foto von oben und schon wird es in der Familie geteilt.

Keiner scheint mein Geschick zu schätzen. Doch dann meldet sich mein Bruder, dass mein Neffe, der noch in die Volksschule geht, nicht nur von dem Foto, sondern von der Tatsache begeistert ist, dass ich mir die Haare selbst geschnitten habe. Und schon schickt mir meine Schwägerin ein Bild, das meinen Neffen auf einem Stuhl zeigt. Mein Bruder schneidet an seinen Nackenhaaren herum.

Im Fernsehen laufen gerade die Hauptnachrichten, und der Moderator Tarek Leitner wird bei einer Live Konferenz von hinten gezeigt. Sofort mache ich ein Foto von seinem Hinterkopf. Er hat nämlich als Haaransatz einen Spitz. Wie mein Neffe. Sofort schicke ich das Foto meiner Schwägerin mit der Aufforderung: „Dass er mir ja den Spitz nicht verhaut!“

„Der Spitz ist weg!“, textet mir die Schwägerin zurück.

Mich befällt eine regelrechte Nackenstarre. Wie gerne hätte ich immer so einen Spitz gehabt als Bub. Nur einer meiner Schulfreunde hatte einen, und alle haben wir ihn bewundert.

„Der kann ihm doch keinen Eisenbahnerschnitt machen!“, texte ich sofort meiner Schwägerin. Mein Bruder ist nämlich Eisenbahner, muss man wissen, und wenn ich an Eisenbahn und Haarschnitt gleichzeitig denke, fällt mir ein furchtbares Erlebnis beim Friseur am Salzburger Hauptbahnhof ein. Ich hatte damals, Anfang der 70er Jahre, lange Haare und bin nur mit einem mitgegangen, der genau von diesem Friseur unweit des furchtbar stinkenden Pissoirs bedient werden wollte. Ich bin damals hinausgestürmt, als ich die Arbeitsweise des Friseurs sah. Er hat vor meinen Augen einen Nebenerwerbsbauern „hinten hinaufgeschert“, dass die Flocken nur so geflogen sind. Für den Mann war es sicher eine Wunschfrisur, weil er schon Narben von vorhergegangenen Behandlungen oder gar Selbstversuchen hatte. Mein Freund hat mir damals erzählt, dass die Nebenerwerbsbauern, auch wenn sie nur geringfügige Eisenbahner waren, diesen Haarschnitt bevorzugten, um sich von den Haupterwerbsbauern zu unterscheiden, die immer noch traditionsgemäß ihr Haar tief in den Nacken wachsen ließen. Die hatten ja keine Hemdkrägen wie die uniformierten Geringfügigen.

Und jetzt hatte mein Bruder wohl schon ganze Arbeit geleistet und meinem armen Neffen nicht nur den Spitz, sondern den ganzen Hinterkopf abgeschoren wie einem Schaf.

Ich war außer mir und sah den armen Kerl schon mit aufgestelltem Hemdkragen herumlaufen. Doch da kündigte ein Ton den Eingang eines Bildes am Handy an. Es war von meinem Neffen. Der Spitz war dran.

© Wolfgang Schinwald 2020-04-02

Hashtags