Der Staat der Kinder

Emily Drechsler

von Emily Drechsler

Story

Vitus war kein guter Sohn. Doch wie alle schlechten Söhne hatte er schon lang kein Gefühl mehr dafür. Und wenn er nun doch einmal in einem seiner luzideren Momente über seine Mutter und ihn nachdachte, dann war er überzeugt davon, dass er ihr die meiste Zeit seines Lebens ein guter Sohn gewesen sei. Dass sie schon längst die Wodkaflaschen unter seinem Bett und die halbvolle Zigarettenschachtel in seiner ranzigen Jacke bemerkt hatte, konnte er natürlich nicht ahnen. Auch nicht, dass sie durch die Alte von nebenan, die einen leichten Schlaf hatte, längst wusste, dass er jede Nacht zu dem „hoffnungslosen Gesindel der Nacht“ verschwand, wie die Alte seine Freunde gern nannte. Und davon, dass er erst kurz vor dem Sonnenaufgang, bevor sie von ihrer Nachtschicht nach Hause kam, in die Wohnung kommt, hatte sie natürlich auch eine Ahnung. Generell wusste Vitus nicht mehr wirklich viel über seine Mutter. Doch diese wenigen Informationen, wie das Krankenhaus, in welchem sie arbeitete, hätte er in diesem Moment dringendst benötigt. Denn eines Morgens, nachdem die Sonne am Horizont hervorragte, war Vitus allein in der Wohnung. Doch diese Tatsache war Vitus zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Noch versuchte er, einzuschlafen. Noch wusste er im Inneren, er würde bald von seiner Mutter geweckt, welche wohl dachte, er würde schlafen. Und in der Tat gab es etwas, was ihn geweckt hätte. Jedoch waren es nicht der Donner des Sturms einige Kilometer entfernt, oder Gestank, der aus einigen der offenen Müllsäcke in den Containern neben der Straße bis zu seinem Zimmer im zweiten Stock stieg. Und erst recht nicht war es seine Mutter. Eher wäre Vitus von den Schreien des Säuglings über seinem Zimmer geweckt wurden. Doch das würde bald aufhören, dachte er sich. Das war nicht sonderlich ungewöhnlich, wusste er. Bald müsste die Mutter des Kindes kommen, die immer kam und das Kind wieder in den Schlaf wiegte. Und sicherlich würde sie das Lied singen, das sie bereits früher ihrem älteren Sohn vorsang, wenn er einschlafen sollte. Daran konnte er sich gut erinnern. In den Sommernächten, da war er wohl zehn oder elf, ließ seine Mutter ihn ein erstes Mal in den Nächten allein, als sie arbeiten war. Und dass er Angst hatte, wollte er ihr nie erzählen. Und als er dachte, er ruft sie an, da sie zu ihm kommen sollte, hörte er das Lied, welches die Mutter von oben ihrem Kind sang. Und er hörte ihre Stimme ganz deutlich, denn er hatte sein Fenster weit geöffnet und der warme Wind blies durch die kleinen Eichen vor dem Block und es schien, als würden sogar die Fliegen, die sich sonst immer in sein Zimmer verirrt hätten oder gegen sein Fenster fliegen würden, für einen kurzen Zeitpunkt ihr einsames Dasein vergessen und der Stimme der Frau zuhören. Und als würden alle Herzen der Welt im Einklang mit dem Rhythmus dieser Stimme schlagen. Und dann konnte auch Vitus endlich einschlafen.

© Emily Drechsler 2022-08-22

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