von HelgaP
Die Pflege meiner demenzkranken Mutter ist eine herausfordernde Situation. Die „Auslöschung“ eines geliebten Menschen miterleben zu müssen, ist ein trauriger Prozess. Der Alltag beschränkt sich immer mehr auf ganz banale Dinge, die immer länger Zeit brauchen und mir als angeblich ungeduldigen Menschen – wie böse Stimmen in meinem Umfeld behaupten – schon oft sehr viel abverlangen. Dennoch glimmen hie und da Augenblicke in diesem grauen Einheitsbrei auf, die noch immer schön sind und ein Stück der warmherzigen, liebevollen Person, die meine Mutter einmal war, aufzeigen.
Es war ein Abend wie immer Meine Mutter, deren Pflegebett im Wohnzimmer aufgestellt ist, lag schon zum Schlafen zurechtgemacht im Bett. Im Fernseher liefen die Nachrichten und ich überlegte hin und her, welchen guten Happen ich mir noch als abendlichen kulinarischen Abschluss genehmigen sollte. Schließlich belegte ich mir ein elegantes Käsebrötchen und mit einem Fläschchen Mineral sah mein Abendsnack auf dem Wohnzimmertisch wirklich zum Anbeißen aus. Ich biss also zu und genoss den pikanten Geschmack von Bergkäse und Mayonnaise. Beim zweiten Bissen war ich scheinbar etwas zu gierig. Der Bissen gelangte nicht dorthin, wo er hingehörte, sondern ich verschluckte mich. Nun gibt es verschiedene Grade von „sich verschlucken“. Während man bei einem leichten Verschlucken durch ein wenig Hüsteln bald wieder seine Contenance erlangt, war dieses Verschlucken von solcher Art, dass ich glaubte, meine letzte Stunde wäre gekommen. Hustenreize schüttelten mich, dass ich mich in meinem Stuhle wie ein Regenwurm auf und nieder bog. Es wollte einfach nicht aufhören und es fühlte sich an, als würde ich mir wirklich und wahrhaftig die Lunge aus dem Leib husten.
Endlich beruhigte sich der böse Hustenreiz und der verirrte Bissen kam scheinbar wieder auf die rechte Bahn. Als ich mir die Tränen, die mir das exzessive Husten aus den Augen gepresst hatte, wegwischte, sah ich auf einmal, dass meine Mutter auf zittrigen Beinen neben meinem Stuhl stand und mir wohl gerade hilfreich auf den Rücken klopfen wollte.
Sie, die normalerweise nicht mehr fähig ist, alleine aufzustehen, die man immer nur durch ein kräftiges „Hohruck“ an beiden Händen ziehend, in eine stehende Position bringen kann, war nun aus Angst um mich, ihr Kind, auf einmal wieder fähig geworden, selbst aufzustehen.
Ich fand diese Geste so rührend, dass die Tränen nun aus emotionalen Gründen in meine Augen traten. Ich half meiner Mutter zurück ins Bett und beruhigte sie, dass mit mir nun wieder alles in Ordnung sei.
Was ich einmal im Biologieunterricht gelernt hatte, nämlich dass der Muttertrieb der stärkste Trieb in Tierversuchen gewesen sei, kreiste in meinem Kopf. Und auch wenn weder meine Mutter noch ich der Spezies von Labormäusen angehören, hat mir dieser Abend gezeigt, wie stark elterliche Liebe und Fürsorge bis ins hohe Alter trotz körperlicher Schwäche sein können. Danke Mutti.
© HelgaP 2025-04-13