Als alles gesagt war und letztendlich verziehen, wurde es lautlos unweit vom hektischen Treiben Wiens entfernt. Regungslos, vollkommen ausgelaugt, saß Max auf selbigem Stuhl, der ihm einst als Oase seines Geistes gedient hatte. Kein Schluck Wein noch Joint konnte ihn entführen, in seine Traumwelt der letzten Jahre. Es war das einzige Erinnerungsstück an den verstorbenen Opa. Zu früh, für den damals jungen Max, war sein Großvater gegangen. Da gab es noch unendlich viele Fragen in seinem kindlichen Gemüt. Sie waren eine Einheit, bereits als Säugling ließ er sich von seinem Opa beruhigen. Gerade neun Jahre war er zu jener Zeit. Er wusste noch alles, das einstmals das gesamte Dorf auftrieb, um bei der Beerdigung seines Opas anwesend zu sein. Konrad B. war ein anspruchsloser Fabriksarbeiter, er trug sein Herz auf dem rechten Fleck. Gegenwärtig fühlte sich Max selbst begraben. Nichts ergab für ihn noch einen Sinn. Zu stürmisch wurde er im Laufe seines Erwachsenwerdens von all den Menschen getrennt, die er so dringend brauchte. Jeden Spott hätte er ertragen, nur nicht diese Stille, die wie ein Messer in seinen Bauch glitt, bis er blutleer am Boden lag. Da erinnerte er sich an seines Vaters Worte, den er kaum sah, obwohl er sich doch nur nach seiner Liebe verzehrte.
„Mein Junge“, sagte er zeitlebens, wenn er mit ihm sprach, „verdamme die Stille nicht. Es wird der Tag kommen, wo nicht mehr als die Stille dein Freund sein wird.“ Max gab nichts auf das Geschwätz seines Vaters, verstand es damals nicht besser, was er ihm damit sagen wollte. Zu hektisch und dröhnend war seine Welt der Jugend. Voll Unvernunft und Drogen. Nun erfuhr er am eigenen Leib, was es heißt, die Stille zu beherbergen, jede Faser seines Körpers zu spüren, um ja keinen Laut zu verpassen. Jetzt hatte er die Zeit, sich mit all den Geistern der Stille zu beschäftigen, allein mit sich selbst, um mit sich ins Reine zu kommen.
Ich habe sie doch geliebt, ging es ihm durch den Kopf, wie es ein Mann von meiner Art nur vermag. Gefühle, die er ihr, seiner Liebe, so lange sie an seiner Seite stand, in keiner Weise gestanden hatte. Er hatte es oftmals versucht, doch ist jedes Mal damit gescheitert. Die süßen Worte von Liebe und Begehren kamen nie über seine Lippe, als verklebten sie wie Honig seine Lippen. Er hatte verlernt, sich auf die Wirklichkeit mit all ihren Facetten und Überraschungen des Lebens einzulassen. Gerade in solch einem Moment sah er SIE das erste Mal. Unvorbereitet, schutzlos, ihrem unbändigen Lebenswillen ausgeliefert. Er zu lethargisch durch das ständige Sich-Berauschen-Wollen. Sie schaffte es all seine Sinne auf Eva, so ihr Name, zu richten, ihm zur Brücke ihres Lebens zu führen.
Und jetzt, Monate später. Unwirklich, matte Schatten seiner selbst. Brannte fragmentarisch Erinnerungsfetzen auf seine Netzhaut, ungewollt. „Warum muss ich mir jetzt diese Frage stellen?“, keimte in ihm immerfort auf. Eva hat ihn verlassen, doch er wusste nicht, aus welchem Grund.
Stille.
© Bernhard Brandstätter 2020-05-17