von Astrid Holzinger
Die Wolken türmen sich auf und umhüllen die Berggipfel. Erwartungsgemäß, aber doch überraschend kommt das erste Donnergrollen. Es scheint, als würde das ganze Tal beben. Das Gewitter fühlt sich so nahe an, näher als sonst. Als wären wir mitten drin. Wir, die in unserem Dachzelt auf einem Campingplatz nicht weit von Gavarnie in den Pyrenäen sitzen. Wie zwei Hasen in einem Bau hocken wir auf der Matratze, eingewickelt in dicke Decken mit Delfindruck. Nur die Köpfe lugen aus dem vielen Stoff heraus. Die wind- und wetterfeste Zeltplane kämpft gegen das Unwetter an. Obwohl sie sich in alle Richtungen bewegt, wirkt sie sehr stabil. Große und schwere Tropfen prallen auf die Abdeckung. Daraus entstehen interessante Geräusche im Inneren des Zelts. Sie sind intensiv und so laut, dass wir keine anderen Laute außerhalb unseres Unterschlupfs wahrnehmen können. Keine, außer dem Donner. Bei Donnergrollen ziehe ich die Decke mit Delfindruck über meinen Kopf. Ich habe Angst. Aber deine Hände bahnen sich den Weg durch das Labyrinth aus Decken und streichen mir über den Rücken. Du versuchst mich zu beruhigen und stellst das Gewitter als eindrucksvoll dar. Du weißt, dass ich mich auf die morgige Wanderung in den Cirque de Gavarnie schon sehr freue. Du erklärst mir deshalb, warum morgen der höchste Wasserfall Frankreichs mehr Wasser als sonst führen wird und wie schön die Tour sein wird. Ich rede nur davon, dass wir mit unserem Dachzelt höher als alle Wohnmobile und Zelte um uns herum und daher der Gefahr am meisten ausgesetzt sind. Dein Gegenargument stützt sich auf die hunderte von Metern höheren Berge, von denen wir umringt sind. Ich bleibe trotzdem unruhig. Deshalb holst du dein Geburtstagsgeschenk aus der Seitentasche hinaus und legst es mir vorsichtig auf die Decke. “Liest du mir bitte vor?” Also schlage ich die erste Seite von “Märchen aus der Bretagne” auf. Wir werden erst in ungefähr einer Woche den Nord-Westen Frankreichs entdecken, aber warum nicht jetzt schon ein bisschen darauf einstimmen? “Von jeher regt die Bretagne mit ihrer pittoresken Fremdartigkeit die Fantasie vieler Menschen an …” Du kuschelst dich an meinen Körper und hörst gespannt zu. Dabei spielst du mit meinen Haaren. Wir lernen von der Verzauberung Merlins, dem Wald Brocéliande, Morgane und den Feen. Ich falle in die Rolle der Erzählerin, wechsle meine Tonlage und Lesegeschwindigkeit. Zu Beginn schrecke ich zurück, wenn wieder ein Blitz einschlägt. Bald vergesse ich jedoch das Gewitter um uns herum. Wir sind gemeinsam in der Welt rund um die Arthus-Sage, deiner Lieblingsfabel angekommen. Mit jeder Seite tauchen wird tiefer ein. Bis wir schlussendlich friedlich einschlafen.
© Astrid Holzinger 2021-03-14