Der Tag an dem wir einbrachen

Gernot Candolini

von Gernot Candolini

Story

Meine Mutter hat eine problematische Wirbelsäule, Osteoporose, Schmerzen. Schmerzen sind das Lebensthema meiner Mutter. Sie wollte den Tag im Kalender anstreichen, an dem sie seit vielen Jahren erstmals schmerzfrei war, doch kaum hatte sie diese erstaunliche Feststellung meinem Vater, erzählt, bleibt sie an einem kleinen Holzpfosten hängen und bricht sich den Schenkelhals.

„Die Operation ist sehr gut verlaufen“ Diesen Satz aus dem Mund der Ärzte hören wir in Folge noch viele Male. Der übliche Nagel im Oberschenkel bohrt sich in die Hüftpfanne. Künstliche Hüfte – Operation sehr gut verlaufen. Erste Luxation, zweite Luxation, dritte Luxation – Operation sehr gut verlaufen, nun kann das Gelenk nicht mehr auskegeln, es ist mit einer Kette fixiert. Die Schmerzen bleiben. Wirbelsäulenverschraubung – Operation gut verlaufen.

Alle leiden mit, wie sehr merke ich an einem bestimmten Tag. Ich nenne ihn den Tag, an dem wir einbrachen. Wir gehören zusammen, wir kooperieren. Alles was man ist, ist man nicht alleine. Alles liebt und ist deshalb innigst miteinander verbunden.

Am Abend bricht meiner Mutter der Brustwirbel oberhalb der Verschraubung ein, sie kann ihre Beine nicht mehr bewegen, eine Querschnittlähmung droht. Die Kinder treffen sich zur Beratung. Mein Bruder ist krank, er hustet in den Ellbogen hinein. Weiterverschrauben ist die einzig sinnvolle Möglichkeit.

Mein Bruder muss ins Bett. Ich gehe mit meinem Vater essen. In dem Moment wo die Hauptspeise serviert wird, muss er kotzen. Ihm ist grottenschlecht. Meine Schwester ist eingetroffen. Kannst Du mir das einpacken lassen, rufe ich ihr noch zu, ehe sich mein kreidebleicher Vater bei mir einhängt und zur Tür drängt. Gott sei dank geht es ihm bald besser. Er schläft auf meiner Couch und trinkt brav seinen Kamillentee.

Meine große Tochter kommt nach Hause. Sie kriegt kaum Luft, schwere Bronchitis. Was haben sie und mein Bruder wohl gemeinsam? Den Virus? Oder die gleiche (Groß)Mama? Die Kleine hängt in den Seilen. Was ist den mit ihr los? Sie lässt einen Huster aus der Kehle. Tief und dunkel und allein das Zuhören ist schmerzhaft. Breitet sich gerade der Virus aus? Nein, es ist kein Virus, der Wirbel der Mutter ist eingebrochen, die Familie spürt den Schmerz, die Familie bricht ein. Cousine Silvia kommt. Sie ist Automechanikerin. Der Motor meiner Seitenscheibe ist kaputt. Sie versucht die Scheibe in ein Plastikteil einzuklicken. „Soll ich helfen?“ Ich greife zu, drücke und sprenge die Scheibe in tausend Splitter. „Das ist noch nie passiert“, sagt Silvia, die schon dutzende Scheiben in dieses Plastikteil hineingedrückt hat. Meine Finger bluten von den Schnitten, das Blut tropft auf die Straße, auf den eilig herbeigeholten Staubsauger, auf die Tür, auf die Schuhe.

„Wir haben bis zum 5. Brustwirbeln verschraubt, die Operation ist gut verlaufen,“ tönt es aus dem Handy. Das Blut tropft auf das Handy.

Mama, bitte steh noch einmal auf. Noch bricht die Welt nicht zusammen.

© Gernot Candolini 2020-04-14

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