von Anita Zöhrer
Ich war ein Kind, als ich dem Tod zum ersten Mal begegnete. Um meinen Vater zu holen, war er gekommen. Nie mehr konnte ich ihn vergessen. Das Strahlen in seinen Augen, das LĂ€cheln auf seinen Lippen. Obwohl er ein Fremder gewesen war, hatte ich mich wohl in seiner Gegenwart gefĂŒhlt. Tief hatte sich sein Gesicht in mein Herz gebrannt.
Die Jahre vergingen und immer wieder mussten Verwandte und Freunde von mir gehen. Dennoch traf ich den Tod nie wieder. Stets war er bereits fort, wenn ich zu den Sterbenden kam. Dass er nicht auf mich wartete, wunderte mich nicht. Vermutlich wusste er nicht einmal mehr, dass ich existierte.
Ich wollte ihn wiedersehen, nicht mehr warten, bis meine Zeit gekommen war. Ausgerechnet meine beste Freundin war es, die mir den Weg ebnete. Sie war jung, doch seit Monaten schwer krank. Ihrer Familie zuliebe kÀmpfte sie bis zur letzten Minute gegen ihr Ende an.
Warum der Tod meine Freundin holen wollte und nicht mich, verstand ich nicht. Meine Freundin hatte ihre eigene Familie und Visionen fĂŒr die Zukunft â im Gegensatz zu mir. Wusste er denn nicht, dass sie viel mehr gebraucht wurde als ich? Wie sehr ich mich nach ihm sehnte? Dass ich ihn liebte?
BlĂŒten des Kirschbaumes, unter dem meine Freundin und ich saĂen, schwebten zu Boden. Ein warmer Windhauch wehte mir entgegen. Nach und nach kam ein Mann vor uns zum Vorschein. Mein Herz pochte vor Freude. Es war der Tod.
âGeh weg und hol dir jemand anderen.â
âDu musst loslassen.â
âWarum kann ich nicht mit ihr tauschen?â Ich wollte diejenige sein, die den Tod begleitete. Bei ihm sein in seiner heilen Welt. Der Tod seufzte. Er haderte merklich mit sich, aber er willigte in meinen Vorschlag ein. Statt meiner Freundin nahm er mich mit auf die Reise. Weder auf der Erde noch im Himmel brachte man VerstĂ€ndnis fĂŒr seine Entscheidung. WĂ€hrend ich unter den Menschen eine groĂe LĂŒcke hinterlassen hatte und dementsprechend betrauert wurde, bekam der Tod ernstliche Schwierigkeiten mit den Erzengeln, weil er unerlaubterweise in mein Schicksal eingegriffen hatte. Ohne Wenn und Aber wurden ihm seine ĂŒbernatĂŒrlichen KrĂ€fte entzogen und ein anderer Mann als Tod erwĂ€hlt. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Was hatte ich nur getan? Niemals hĂ€tte ich geglaubt, mit meinem Wunsch so viel Unheil anzurichten. Von SchuldgefĂŒhlen geplagt saĂ ich am Steg eines Sees und weinte. Das Wasser glitzerte und Bilder erschienen darin. Es waren Bilder aus meiner Vergangenheit. Erinnerungen an Menschen, die mir alles bedeutet hatten. Erinnerungen an Erfolge, die ich in meinem Leben erfahren durfte.
âDie Welt ist nicht nur schlecht, die Menschen nicht nur böse.â Der Tod setzte sich zu mir. Ich drĂŒckte seine Hand, ahnte, dass unser Abschied nahte. âIch muss zurĂŒck, nicht wahr?â
Der Tod nickte und lĂ€chelte. âSorge dich nicht, ich werde bei dir sein.â TrĂ€nen traten ihm in die Augen. Ich strich ihm ĂŒber die Wange, kĂŒsste ihn und erhoffte mir nichts sehnlicher, als dass wir uns bald wiedersehen wĂŒrden.
© Anita Zöhrer 2021-02-22