Der Tengelmann

Hermann Karosser

von Hermann Karosser

Story
Pfarrkirchen

„Liebe Klassenkamerad(inn)en, nun ist es so weit: Es gilt, das vor 50 Jahren bestandene Abitur zu feiern!“, sie traf mich völlig unvorbereitet, die Email mit dieser Nachricht. Ist das wirklich schon 50 Jahre her, dass wir uns zu unserem Schulabschluss hin gequĂ€lt haben (manche weniger manche mehr)? Dann die Erleichterung, dass es vorbei war und noch mehr als man es bestanden hatte. Auch vor 50 Jahren: Abschlussfeiern und 
 die ganz persönlichen Abschiede.

TatsĂ€chlich hab ich so manche(n) von den Schulkammerad(inn)en völlig aus den Augen verloren, nie mehr getroffen oder auch nur gesprochen. Man hatte wohl doch nicht so viel gemeinsam, 
 außer, ja, außer halt diese neun Jahre Schulzeit.

FrĂŒhere Ehemaligentreffen hab ich geschwĂ€nzt, keine Zeit, kein Interesse. Dieses Mal ist das anders: Ich sage sofort zu. 27 SchĂŒler waren wir damals in der 13 g (das ‚g‘ ein Relikt aus der Zeit, als nur der humanistische Zweig als wirkliches Gymnasium galt). 17 davon haben sich fĂŒr die 50-Jahr-Feier angemeldet. Werde ich sie noch erkennen, zumindest den einen oder anderen davon? Werden sie mich noch erkennen, den HinterbĂ€nkler? Irgendwie war es dann fast ein wenig lustig. „Du bist doch da Sepp, oder?“, „Na, i bin da Hans!“. „Aber du bist de Gertrud, hast de kaum vaĂ€ndert!“. „Danke fĂŒr das Kompliment. Trotzdem, oid worn san ma alle!“.

Die Zeit verging wie im Flug. Bis jeder mit jedem seine ‚Vita‘ ausgetauscht hatte (manche hatten viel, andere weniger zu erzĂ€hlen) und alte Bilder stilgerecht mit dem Diaprojektor an die Wand geworfen waren (haben wir wirklich so viel Bier getrunken damals?), war der Nachmittag schon rum.

Irgendwann hab ich meine ‚Empfangsorgane‘ fĂŒr einige Minuten abgeschaltet und in Gedanken befasste ich mich mit dem Ort, dem Wirtshaus, in dem wir uns gerade befanden. War das nicht ein Tengelmann-Markt, damals in den 1960er Jahren? Damals als der Bart bei mir zu sprießen begann. Und genau in diesem Tengelmann hab ich mir meinen ersten Rasierapparat gekauft, einen Remington, schon damals ‚Aktionsware‘ hier im eigentlichen LebensmittelgeschĂ€ft.

Am Abend dann gesellten sich selbst manche von uns, die nicht körperlich anwesend waren, noch zu uns. So wurde erzĂ€hlt von Willi, unserem schon damals begnadeten Trompeter, der spĂ€ter in renommierten Orchestern Musikerkarriere machte. Er hat seine Lippen versichert, sich an denselben dann tatsĂ€chlich so verletzt, dass er nicht mehr spielen konnte und lebt nun gut versorgt 
 auf den Seychellen. Nicht jeder hatte so viel GlĂŒck im UnglĂŒck.

In der Euphorie des geselligen Zusammenseins wurde dann der Wunsch geĂ€ußert, sich wiederzutreffen. „Da mĂŒssen wir die Intervalle aber ein wenig kĂŒrzer setzen“, meinte der Wolfgang und alle verstanden warum. Hat uns doch eh schon einer verlassen und, weil das Leben halt so ist, wird das bei lauter ĂŒber 70-JĂ€hrigen kein Einzelfall bleiben.

Und dann, nach 50 Jahren wie damals: Wieder ganz persönliche Abschiede. 
 Dieses Mal hoffentlich ‚auf bald‘.

© Hermann Karosser 2023-04-23

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Emotional, Informativ
Hashtags