von MISERANDVS
“Das…”, sagt mein Hausarzt, als er die randvolle Viole mit den Steinen der letzten drei Wochen in seinen Fingern dreht: “Das solltest du deinem Chef mal unter die Nase halten, damit der mal versteht, was du durchmachst.” Er klingt dabei wütend, weil er meine Geschichte kennt. Noch immer ist er sauer auf den Verein wegen damals, als deren Laufbursche im Krankenhaus aufgetaucht ist und tatsächlich eine Kopie meiner Krankenakte haben wollte. Die behandelnde Ärztin hat mich damals angerufen und mir wutschnaubend berichtet, dass der grad da war. “Was haben sie gesagt?”, fragte ich. “Hab gesagt, er soll sich verpissen, sonst ruf ich die Polizei.”, meinte sie ganz entspannt, und ich musste lachen. Ein paar Monate drauf haben sie den dann gekündigt – wegen dienstlicher Verfehlungen. “Tel Aviv!”, wie der Franzose sagt.
Ich atme tief durch. Mein Doc sieht mich an. Dann kippt er den Inhalt der Viole auf die schwarze Schreibunterlage auf seinem Tisch, und er schiebt die Steine mit dem Kuli auseinander. “Jeder Stein … so große Schmerzen. Unvorstellbar…”, flüstert er. Ich nicke nur achselzuckend.
Er schreibt mir alles auf, was ich an Zuweisungen und Rezepten brauche.
Dann lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, sieht mich hinter seiner Maske mit seinen immer wachen Augen an. Er will noch ein wenig plaudern, wie immer. Wir verstehen einander sehr gut, weil wir ähnlich ticken, auch – und vielleicht grade deswegen – weil wir kulturell und religiös weit auseinander sind. Aber eines führt uns dann doch im Herzen zusammen: Der Wunsch, das Bestreben, Gutes zu tun, ein guter Mensch zu sein.
Zum Glück fragt er mich nicht, wie es mir geht. Wozu auch! Die steinharten Fakten sprechen für sich. Also tut er, was er so gut kann: Ein guter Mensch sein, und er fragt mich: “Und deine … wie heißt sie noch… Lydia? Wie geht es ihr?”
Augenblicklick schnürt es mir die Kehle zu, und dicke Tränen kullern mir über die Wangen. Ich schaue aus Scham zur Seite. Und weil ich kein Wort herausbringe. “Shaytan!”, denke ich zornig, als er mir meine schlimmste Wunde aus Mitgefühl aufreißt, die grad ein wenig heilen wollte. Irgendwann bringe ich leise hervor: “Lydia ist tot.”, und er legt mir seine Hand auf den Arm. Ich rotze hinter meiner Maske, fange mich, und ich erzähle, wie ich Lydia auf ihrem letzten Weg begleitet habe. Wie es durch Zufall – oder Kismet – dazu kam. Er schüttelt immer wieder den Kopf, schnalzt mit der Zunge. “Unglaublich.”, sagt er, als ich am Ende meiner Erzählung bin: “Unbegreiflich!” Ich schniefe. Er sieht mich nur kopfschüttelnd an, und er faltet die Hände vorm Gesicht zusammen, als wolle er beten.
“Wie ist das bei euch?”, frage ich. “Ihr habt doch auch ein Paradies. Denkst du, … sie ist dort?”“Dschanna.”, sagt er, und er lächelt. Dann nimmt er meine Hände, schiebt seine beide sanft in sie, er fasst sie, hält sie, drückt sie warm und lange. Er sieht mich an und sagt: “Sie wartet dort auf dich.” Ich weine, und ich nicke.
Und dann geh ich, denn mein Herz, es blutet wieder ohne Ende.
© MISERANDVS 2021-05-25