Der Traum

Heute Nacht bist du mir im Traum begegnet. Du tatest etwas, was du dein ganzes Leben lang nicht getan hast. Du nahmst meine Hand. Händchenhaltend, fast wie ein Paar, gingen wir gemeinsam des Weges. Bruder und Schwester. Zuvor hast du mir tief in die Augen gesehen. Mir wurde warm ums Herz.

Hielten wir uns jemals an den Händen, als du noch lebtest? Ich weiß es nicht. Vielleicht als Kinder? Sicherlich! Vermutlich kann ich mich einfach nicht mehr daran erinnern. Sicher hat unsere Mutter des Öfteren zu dir gesagt: „Nimm deine kleine Schwester an der Hand, hilf ihr bitte.“ Und mit Sicherheit hast du es gern gemacht. Große Brüder helfen gerne kleineren Geschwistern. Sie tun es mit Stolz. Aus Freude am Helfen und am „Größer- und Älter-Sein.“ Und du warst sehr gerne als Kind der „große“ Bruder. Das weiß ich noch genau und ich erinnere mich deutlich daran, wie du – der um fünf Jahre Ältere – immer versucht hast, mich zu beschützen.

Manchmal hat mich das sogar geärgert. Ich traute mir selbst oft mehr zu als du mir. Doch du hast es gut gemeint. So wie es alle Geschwister im Grunde immer nur gut meinen. In jenem Jahr, als ich den Führerschein ganz frisch in Händen hielt, wollte ich einmal mit Papas Auto in der Vorweihnachtszeit in die nächstgelegene Stadt zum Einkaufen fahren. Allein. Alle waren einverstanden. Nur du nicht. Ein Führerscheinneuling mit mangelnder Fahrpraxis im starken Freitagnachmittagsverkehr? Das könne man beim besten Willen nicht zulassen, hast du dein Veto eingelegt. Mit einem Lächeln auf den Lippen verzeihe ich dir heute, dass sich dein Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten in Grenzen hielt. Du wolltest mich an diesem Tag wohl nur vor Unheil bewahren. Und wahrscheinlich auch Papas Auto.

Im Traum heute Nacht warst du wieder so, wie du zu deinen besten Zeiten warst. Gesund. Vital. Der große Bruder, zu dem man aufsieht. Auf den man stolz ist. Und ich war es immer. Leider habe ich es dir viel zu selten gesagt. Doch andererseits bin ich mir sicher, dass du hörst, siehst und spürst, was ich sage, schreibe und denke. Geschwisterliche Bande halten ewig. Auch über den Tod hinaus.