Der Traum vom Fliegen

Felix Kraus

von Felix Kraus

Story

Was wird wohl einmal aus mir werden? Noch stehe ich auf sicherem Grund, meine Beinpaare klammern sich an die feste, warme Rinde meines Baumes. Ich bin geboren worden, aufgewachsen und habe gerade erst den Schutz meiner Kinderstube verlassen. Sie ist mir zu klein geworden und ich muss sie jetzt verlassen, so weh es auch tut, sie nun neben mir verrotten zu sehen. Aber ich bin nun draußen. An der frischen Luft. In der Freiheit. Nur – was nun?

Eine wunderschöne Aussicht liegt vor mir: Eine weite Landschaft moosbedeckter Erde, aus der sich wunderschöne, bunte Blüten emporstrecken, liegt tief unter meinem Ast. Mächtige Baumstämme ragen ebenfalls aus dieser Hügelebene in schwindelnde Höhen hinauf, in denen ich mich selbst befinde. Hier und da ziehen riesige, behaarte Körper an mir vorbei, so groß, dass sie mit ihren schweren Pfoten über die tiefe Moosdecke stapfen und dabei trotzdem auf mich hinabschauen. Ein unglaubliches Spektakel das alles! Aber das meiste davon ist gar nichts für mich. Die Blumen und Pflänzchen am Waldboden sind zwar schön, liegen aber viel zu weit unter mir und das Wesen dieser gigantischen Fellmonster liegt sowieso jenseits meiner Vorstellungskraft. Was mich bewegt, sind die vielen grünen, saftigen Blätter, die alles hier im Wald verkleiden – und die Schmetterlinge.

Anmutige, zarte Wesen sind das, nicht viel größer als ich, doch mit einem Flügelpaar, das sich weit von ihrem Körper erstreckt, wie ein viel zu langer, sich in vollem Umfang entfaltender Umhang mit den kunstvollsten Zeichnungen in kräftigen Farben, die den Blumen große Konkurrenz machen. Bei ihnen wird mir ganz anders als beim Anblick einer satten, grünen Baumkrone. Ich sehe ihnen zu, diesen lebendigen Farbexplosionen, die verspielt wie ein Kind unter dem weit weg liegenden Blätterdach durch die Luft tänzeln und dabei alle Waldbewohner tief in ihrer Seele berühren – und tief in mir rührt sich mehr als nur Bewunderung. Ein unbeugsamer Drang kommt in mir auf, ein drängender Wille, der, zart und stark zugleich wie ein junger Trieb, zu einem tiefen, inneren Wunsch heranwächst:

Ich will fliegen können wie ein Schmetterling!

Ich merke, wie ich, blind und berauscht, nur noch auf meine beiden hinteren Beinpaare gestützt, meinen langen Körper in die Luft emporgestreckt habe. Ich möchte es können, jetzt!

Doch etwas stimmt nicht. Wenn ich den Schmetterlingen so zusehe, muss ich erkennen: Der Weg dorthin ist lang, sehr lang, denn ich bin momentan noch weit davon entfernt, fliegen zu können. Ich würde in die Tiefe stürzen, wenn ich es jetzt probierte. Und doch regt sich eine Art Zuversicht in mir.

Ob Raupen wie ich überhaupt zu Schmetterlingen werden können? Ist das möglich? Diese sehen jedenfalls nicht so aus, als wären sie einst Raupen gewesen. Aber ich werde es versuchen!

Ich bleibe zwar erst einmal am sicheren Grund der Baumrinde und werde so viele Blätter fressen, wie ich nur kann. Dann aber wird meine Zeit kommen.

Und ich werde mich in die Luft erheben.

© Felix Kraus 2022-02-09

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