Vögel zwitscherten, Wind rauschte durch die Blätter an den prächtigen Bäumen und Menschen spazierten unbeschwert durch den herrlichen, weitläufigen Park. „Moment mal, wo zum Geier bin ich?“ Emma stand mitten in einer riesigen Parkanlage, sie war noch immer ein wenig benommen und ihre Hand schmerzte, als wäre ihr heiĂźes Ă–l ĂĽber die Finger geronnen. „Dieses blöde Buch“, schimpfte die Studentin innerlich. Nachdem sie nicht wusste, wo sie war, geschweige denn, wie sie hier wieder wegkommen sollte, beschloss sie ein wenig spazieren zu gehen. Mitten im Park stand ein steinerner Turm, ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Der Turm, oder das, was davon ĂĽbrig war, war zu allen Seiten offen und einsehbar. Es sah aus wie vier miteinander verbundene Torbögen, die sich nach oben hin zu einer Turmspitze vereinten. Zwei ältere Damen spazierten Arm in Arm Richtung Turm. Emma schmunzelte. Die beiden erinnerten sie an sich und ihre beste Freundin, sie hoffte, dass sie sich im hohen Alter genauso gut verstehen wĂĽrden. Die Damen hatten den Turm erreicht und gingen hindurch, doch sie kamen wider Erwarten nicht auf der anderen Seite heraus. Emma hielt Inne, machte kehrt und umrundete mit etwas Abstand den Turm. Als sie die andere Seite des Turmes erreicht hatte, sah sie gerade noch, wie ein recht beleibter Mann zwei leblose Körper auf seine Scheibtruhe lud. „Hey! Was machen sie denn da?“, rief die Studentin. „Stör‘ mich nicht, ich mache hier nur meine Arbeit“, knurrte der Mann. Unbeirrt ergriff er die Scheibtruhe und fuhr davon. „Halt! Warten sie!“ Doch in dem Moment war der Mann verschwunden. Verwirrt fuhr sich Emma mit beiden Händen durch die Harre und wandte sich nach beiden Seiten um, in der Hoffnung, dass vielleicht irgendjemand gesehen hat, was eben passiert war. Doch es war keiner in der Nähe. Sie sah sich den Turm nochmal genauer an. Auf dem oberen Querbalken des einen Torbogens stand in verwitterten Buchstaben „Land der Schatten“. Ein Schauer lief ihr kalt den RĂĽcken hinunter. Ein alter Mann kam auf den Turm zu. Er betrat den Turm, sah sich einen Moment um und ging dann bestimmt auf den Durchgang zu, den Emma gerade betrachtet hatte. Der Mann trat ĂĽber die Schwelle, verdrehte die Augen Richtung Himmel und kippte dann vorne ĂĽber. Er landete mit dem Gesicht voran im Gras. Da kam auch schon der Mann mit der Scheibtruhe. „Mann, oh Mann, das sind aber heute viele…“, murmelte er vor sich hin. Emma bemerkte, dass weder der Mann noch seine Scheibtruhe einen Schatten warfen, was bei dem derzeitigen Sonnenstand ungewöhnlich war. Sie selbst warf jedoch einen Schatten. Emma sammelte ihren ganzen Mut und betrat den Turm. Als sie auf denselben Torbogen wie der alte Mann und die beiden Damen zuging, sagte der Mann mit der Scheibtruhe, der noch mit aufladen beschäftigt war: „Das willst du nicht, Kind. Wer einmal ĂĽber die Schwelle tritt, kommt nie mehr zurĂĽck.“ Sie wandte sich zum nächsten Bogen um: „Ballsaal der Tränen“. Zögernd ging sie hindurch.
© Lisa-Marie Fellner 2022-08-30