von Frank Wallner
Im Herzen des Wallis, ungefähr in der Mitte des schönen Rhonetals, gibt es einen geheimnisvollen Ort. Als ich das erste Mal durch Zufall davon hörte, machte ich mich sofort auf den Weg. Ich fuhr entlang der Simplonstrasse bis zur Kantonshauptstadt Sion. Diese thront auf zwei gigantischen Hügeln und ist im Rhonetal weithin sichtbar. Nach etwa 10 Minuten Fahrzeit führt die Straße in den kleinen Ort St-Leonhard. Von dort sind es nur noch etwa 500 Meter und wenige Treppenstufen bis zum Eingang einer Höhle. Inmitten einer lieblichen Berglandschaft öffnet sich dahinter eine riesige Höhle. In deren Innern sich in geheimnisvoller Schönheit der Lac Souterrain, der unterirdische See von St-Leonhard befindet.
Dieser See wurde erst im Jahr 1943 entdeckt und ist seitdem eines der faszinierenden Orte unter der Erde. Mit einer Länge von 300 Metern ist es der größte natürliche und schiffbare unterirdische See Europas.
Auf einem Ruderboot gelangten wir in eine vollkommene Stille. Während einer 30-minütigen Bootsfahrt glitten wir sanft über das glasklare Wasser und lernten von einem Führer die Geheimnisse des Sees und seine Ursprünge kennen. Es ranken sich viele Sagen und Geschichten um diese Grotte, in die sich früher niemand hineingewagt hatte, zumal der Eingang mit reichem Pflanzenwuchs bedeckt war und daraus nur ein kleiner Bach plätscherte. Die nachfolgenden zwei Geschichten sind mir in Erinnerung geblieben.
Eines Tages erzählte ein Bewohner des Weilers, der als Waldläufer und Hexenmeister bekannt war, seinem Freund unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass die Grotte einen geheimnisvollen Schatz bergen müsse. Nahe der Höhle habe er eines Tages sonderbar versteinerte Blätter zu seinen Füßen erblickt. Er hob eines auf und habe dabei einen Windstoß aus dem Berginnern verspürt. Daraufhin verwandelte sich das Blatt in ein Goldstück.
Weiterhin erzählt man sich, dass in früheren Zeiten die jungen heiratsfähigen Mädchen auf dem Wasserspiegel des Baches, der aus der Grotte floss, das Bild ihres zukünftigen Gatten sehen konnten. Dazu mussten sich die neugierigen Mädchen am Heiligen Abend um Mitternacht allein vor dem Höhleneingang einfinden und inbrünstig beten. Daraufhin soll aus der Tiefe des Berges ein geheimnisvolles bläuliches Licht getreten sein und auf dem Wasser des Baches ein Lichtkreis mit einem männlichen Antlitz projiziert haben.
Schade, dass die Bootsfahrt so schnell vergangen war. Ich hätte noch gern viele weitere Sagen und Geschichten um diesen geheimnisvollen unterirdischen See erfahren. Woher wohl das Wasser des Sees kommt und ob es vielleicht unbekannte Lebewesen darin gibt? Oder liegt dort im Verborgenen das versunkene Atlantis? Waren da nicht auch diese seltsamen Schatten an den Höhlenwänden? Fragen über Fragen!
Foto: Groupedia
© Frank Wallner 2021-03-07