Rechts vom Fluss, der den Wald spaltet wie ein Riss in der Wand, ist eine kahle Fläche, die früher ein Garten war, dicht bewachsen mit roten Rosen, umgeben von hohen Mauern. Einst hatten sich hier hunderte von roten Blüten zu einem Meer aus Feuer geformt. So schien es zumindest, wenn man von weit weg darauf blickte.
In dem kleinen Holzhaus nebenan wohnte ein Ehepaar mit drei Söhnen, der älteste sieben, der jüngste gerade einmal zwei. Während der Mann auf der Arbeit war und die Kinder im Kindergarten und in der Schule, pflegte die Frau den Rosengarten. Die Tage waren lang und unterschieden sich kaum voneinander. Sie lebten ein einfaches Leben bis zum März jenes Jahres, in dem sich die Gedankenwelt der Frau gegen sie wandte.
Die Depressionen kamen mit dem Frühling, den ersten Sonnenstrahlen, die nicht auf weißen Schnee trafen und dem ersten Vogelzwitschern. So wie es keinen Auslöser gab, gab es auch keine Heilung. Die Frau spazierte durch die Gänge zwischen den Rosenbeeten, vertieft in ihre Gedanken. Manchmal streichelte sie die Rosen oder roch an ihren Blüten. Manchmal pikste sie sich einen ihrer Zeigefinger an einem Dorn auf. Ihr dunkelrotes Blut vermischte sich mit der Farbe der Blüten. Sie bemerkte den Schmerz kaum.
Gelegentlich saß sie auf der Holzbank, die sich inmitten des Gartens befand und starrte vor sich hin. Stundenlang. Je roter und kräftiger die Rosen blühten, umso mehr hatte sie den Eindruck, dass die Welt an Farbe verlor. Als würden die dornigen Blumen sämtliche Energie und Leben um sich herum aussaugen, um selbst zu wachsen und zu gedeihen.
Die Monate vergingen und aus Frühling wurde Herbst, wurde Winter. Und mit dem ersten Schnee, der die Gewächse unter sich begrub mit seiner weißen, schweren Decke, lichtete sich der dunkle Vorhang, der sich um ihr Herz gelegt hatte.
Sie spielte wieder mit ihren Kindern, lachte mit ihrem Ehemann, fing wieder an zu stricken, zu häkeln und zu backen. Eines Tages plagten sie starke Kopfschmerzen. Sie nahm ein paar Tabletten. Wohl zu viele, denn anstatt nur die Nacht durchzuschlafen, verschlief sie auch den ganzen Tag. Während ihr Mann auf der Arbeit war und ihre zwei älteren Söhne in der Schule, war der Kleine, nun gerade einmal drei Jahre alt, allein mit ihr zuhause. Unbemerkt verließ er, von Langeweile getrieben, das kleine Bauernhaus und ging in den Garten. Die Kälte bemerkte er zu spät. Er wollte zurück ins Haus. Doch die Tür war zugefallen. Er klopfte und schrie und weinte, aber seine Mutter, durch die Medikamente in einen Dornröschenschlaf versetzt, hörte ihn nicht. Und so ging er zurück in den Garten, legte sich auf die Bank und schlief ein.
Als seine Mutter aufwachte, überkam sie Panik. Sie torkelte durchs Haus, benommen von den Medikamenten und rief den Namen ihres jüngsten Sohnes. Vergebens. Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinab. Ohne festes Schuhwerk und ohne Jacke hetzte sie in den Garten hinaus.
© Stefanie Unbehauen 2022-08-28