Der vergessliche Dementikor – Kapitel 1

Jessica Jübermann

von Jessica Jübermann

Story

Das Gorgenland. Heimat der Schlangen. Schlangenadler, Schlangendrachen, Schlangengurken. Und vor uns die längste Schlange, die ich jemals erblicken durfte.

»Wieso stehen denn so viele am Arbeitsamt an?« Talia maulte und verschränkte mit bösem Blick die Arme vor dem Körper. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die Schulter des Mannes vor sich zu schauen. Der hatte eindeutig Golemblut in den Adern, so breit und hoch, wie er war. Die Menge der Wartenden verlief um den Block. »Komm, Siggi, wir verschwinden. Da habe ich keine Lust drauf.«

Begeistert wedelte ich mit meinem Schwanz und wuffte die Warteschlange noch einmal an. Wir verließen das Marktviertel der Stadt Maui und suchten uns eine ruhige Ecke. Ich tollte neben meinem Frauchen her und kläffte die ein oder andere Guaca-Dohle an, die über uns hinweg flog. Ihr hinterherzufliegen hatte ich keine Lust. So ließ ich meine Flügel eingeklappt und beließ es bei meinem wilden Gebell.

»Was machen wir jetzt?« Talia blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Seite. Sie wirkte verzweifelt, wenn mich meine Köternase nicht täuschte. Natürlich war mir klar, was los war. Talia suchte seit Tagen nach einem neuen Auftrag. Weder am Schwarzen Brett noch in der Zeitung hatte sie eine geeignete Anzeige gefunden. Die suchten alle erfahrenere Helden und keine frischen Absolventen der Helden-Ausbildung. Talia war gut, das konnte man mir glauben. Aber auf mich hörte ja keiner. Was vermutlich daran lag, dass niemand meine Sprache verstand.

»Der schaut aber traurig aus«, sagte Talia und zeigte nach vorn. Auf dem Bürgersteig hockte ein miesepetrig dreinblickender Kerl und starrte zu Boden. Oh, ein Dementikor.

Talia wusste das ebenfalls, doch zog sie sicherheitshalber ihre Helden-Fibel hervor. Schnell durchblätterte sie das Buch und las leise vor: »Der Dementikor ist ein Mischwesen mit dem Körper eines Löwen und dem Schwanz eines Drachens. Das Gesicht ähnelt dem eines Menschen. Dementikoren leben überall in Wanganui, bevorzugen jedoch die Tiefe des Waldes als Heimat. Sie sind außerordentlich klug, aber leider auch außergewöhnlich vergesslich.«

Sie verstaute das Buch im Rucksack und wir traten näher an den Dementikor heran. »Hallo. Kann ich dir irgendwie helfen?« Talia lächelte ihn freundlich an.

»Oh, ähm. Hallo. Ja, das wäre toll!« Auf sein griesgrämiges Gesicht schlich sich ein Lächeln.

Ihre schlechte Laune war sofort wie weggeblasen. »Wunderbar! Was kann ich tun?«

Der Dementikor sprang auf alle viere und strahlte uns an. »Keine Ahnung.«

Ich vergrub meinen Kopf zwischen meinen Pfoten. Das fing ja gut an. »Was… aber… wie meinst du das?«, stotterte Talia.

»Na ja. Also ich weiß noch, dass ich aus irgendeinem Grund von Zuhause weggegangen bin. Irgendetwas Wichtiges. Und ich hatte auch ein Ziel vor Augen.«

© Jessica Jübermann 2022-10-20

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