Der verlorene Zwilling

Annkristin Smponias

von Annkristin Smponias

Story

Ein Blick in das Familienalbum meiner Kindheit verrät: Ich habe eine Zwillingsschwester. In meinem Alltag, meinem Leben, ist sie heute nicht mehr zu finden.

Ich war gerade einmal fünf Jahre alt, wir lebten damals noch in den Staaten, und wie so oft, zogen wir aufgrund des Berufes meines Vaters erneut um. Mein Vater verdiente gut, meine Mutter blieb bei uns daheim, um sich um uns zu kümmern. Wir waren eine völlig normale Familie mit dem Traum, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Fuß zu fassen – bis zu Diagnose akute myeloische Leukämie (AML). Sie veränderte mein Leben und natürlich auch das meiner Geschwister und meiner Eltern maßgeblich. Wie so häufig, kam eines zum anderen: Meine Krankenhauskosten stiegen in die Höhe, mein Vater verlor seinen Job und meine Eltern standen vor der immensen Aufgabe, uns zu ernähren. Während die Betreuung meiner Geschwister meist durch eine Nachbarin oder eine ehemalige Arbeitskollegin meines Vaters gesichert war, verweilte ich im Krankenhaus und meine Eltern nahmen einen Job zum Mindestlohn an, um überhaupt etwas Einkommen zu sichern. Wir waren zu einkommensstark für das Gesundheitsfürsorgeprogramm und doch zu arm, um die Kosten meiner Behandlung zu übernehmen, denn ich selbst war noch nicht krank genug, um in das Programm aufgenommen zu werden.

Die ehemalige Arbeitskollegin meines Vaters war verheiratet. Eigentlich arbeitete sie nur aus Zeitvertreib, nicht aber, aus der Notwendigkeit heraus. Ihr Mann entsprang einer enorm wohlhabenden Familie, sie waren kinderlos, und während er den ganzen Tag arbeitete, verbrachte sie die meiste Zeit mit meiner Mutter und überschüttete uns bereits früher mit wunderschönen Geschenken. Sie besuchte mich jeden Tag, vor allem dann, wenn meine Eltern es nicht konnten, engagierte Babysitter für meine Geschwister, half meinen Eltern, wo sie konnte – und sie bot meiner Familie finanzielle Unterstützung an. Nicht aber aus der Selbstlosigkeit heraus, im Gegenzug verlangte sie die Adoption meiner Schwester und mir – ihr Traum waren nämlich eineiige Zwillinge, bevorzugt Mädchen. Meine Familie hielt zusammen, doch eine Wahl blieb ihnen nicht. Ich erfuhr erst ein gutes Jahr später davon, als ich in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde und meine Eltern und mein älterer Bruder mich plötzlich nicht mehr besuchten. Offenbar waren meine Adoptiveltern weggezogen, und wie ich später erfuhr, hatten sie meinen leiblichen Eltern nichts davon erzählt. Bis auf wenige gute Wochen lebte ich praktisch im Krankenhaus. Die Therapie forderte seinen Tribut, und nach etlichen Chemotherapiebehandlungen und einer Spende, die lange auf sich warten ließ, ging es mir endlich besser. Mein siebter Geburtstag näherte sich und der Wunsch, meine Eltern wiederzusehen, war so groß, dass ich, mehr durch einen Zufall, der Polizei mitteilte, man würde mich vermissen und ich sei meinen Eltern weggenommen worden. Für mich als Kind fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, bis ich sie wiedersah. Obwohl die Adoption rechtskräftig war, ließen sie mich zurück zu meinen Eltern. Meine Schwester entschied sich jedoch, dort zu bleiben. Der Rechtsstreit, der folgte, war aussichtslos und der Kontakt zu meiner Schwester besteht heute nur noch sporadisch.

© Annkristin Smponias 2024-07-18

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Angespannt
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