von MISERANDVS
Während wir im Jour fixe auf Kurs gebracht werden, versuche ich, mich krampfhaft wach zu halten. In dem kleinen Raum ist die Luft jedes Mal so schlecht, dass ich immer einschlafen könnte. Meinen Kaffee habe ich schon nach ein paar Minuten leer getrunken. Immer wieder reiße ich meine Augen zwanghaft auf, um nicht einzupennen. Schlimm! Viel Neues gibt es auch nicht.
Und da fällt mein Blick auf sie. Und es fällt ihr Blick auf mich.
Sie, die mit geradezu einstudiert aufrechter Haltung mir gegenüber sitzt, ohne die Stuhllehne zu berühren, mit akkurater Frisur und hochgeschlossener Bluse. Sie, die die Hände auf dem Tisch liegen hat. Die nie mit etwas spielt in ihren Händen. Sie, die sehr ruhig ist und nie spricht. Sie, die manchmal schon in meine Richtung gesehen hat, doch dann immer über mir an die Decke, immer über mich hinweg. Die Akademikerin, die mit mir bislang nur ein einziges gesprochenes Wort verbindet, sie blickt mich an, und ich sie.
„Was ist in Deinem Blick? Was soll ich sehen? Was soll ich lesen?“, frage ich mich.
Und ich bin wach mit einem Mal. Keiner von uns beiden blinzelt.
Und mit einer winzig kleinen Bewegung ihres Nackens und ihrer Schultern, die sie ganz leicht nach hinten zieht, als wollte sie ausdrücken: „Das ist jetzt genug.“, dreht sie ganz langsam den Kopf wieder nach vorn. Völlig ohne Minenspiel. Und ich muss lächeln. Der Moment, der vielleicht 20, 30 Sekunden gedauert hat, ist wie ausgelöscht und schwebt doch noch im Raum. Ist wie nie passiert und hält mich doch gefangen.
Was war das? Was war das grade? „Was hast Du gemacht, Frau?“, frage ich mich.
Ich sehe ihre akkurat gekämmten Haare. Ich sehe ihre feinen Gesichtszüge, die wie aus Porzellan modelliert sind. Ihre Konturen sind makellos, und ihre Haut ist schön und hell und rein. Mein Blick wandert über ihren Haaransatz im Nacken über ihr Ohr, das zierlich und wohlgestaltet ist, über ihren Hals, in dem ganz leicht, ganz, ganz leicht eine Vene pocht unter schneeweiß sinnbetörender Haut. Und während mein Blick auf dieser hypnotisch pochenden Vene haftet, streiche ich mit meinen Fingern über das Blatt Papier in meinem Block, als könnte ich sie berühren, sie fühlen. Als könnte sie meine Berührung fühlen. Als spürte sie, wie meine Finger sanft ihren Haaransatz berühren und langsam entlang der pochenden Vene gleiten. Und in Gedanken fühle ich das Venenpochen zu einem Pulsieren werden. Und ich denke meine Finger ihr Schlüsselbein berühren, und wähne ihr Kinn auf meinem Handrücken, als sie ihren Kopf zur Seite neigt, um ihren herrlichen Hals meinen warmen, begierigen Lippen anzubieten.
„Gut, wenn dann keiner mehr Fragen hat, dann sind wir wohl fertig für heute.“, tönt es von vorne.Und mit einem Mal stehen alle auf und gehen. Auch sie. Ohne einen letzten Blick. Ohne ein Lächeln für mich. Einfach so. Als wäre grade nichts zwischen uns passiert.
Auch ich packe mein Zeug zusammen. Ich seufze. Wie schade, dass die schönen Frauen immer so unnahbar sein müssen.
© MISERANDVS 2021-04-13