von Alexander Hörl
Alessia stürmte zur Kirche. Mit einem Mal erhob sich starker Wind. Ein flammender Blätterwirbel umschloss einen Augenblick lang ihren Körper. Im fahlen Mondlicht wirkte er wie ein erkalteter Feuersturm. Alessia achtete nicht darauf. Sie lief unbeirrt weiter, bis sie durch das Portal der Kirche trat.
Sie erstarrte, als sie ihren Fuß über die Schwelle setzen wollte. Einen Moment lang weigerte sich ihr Gehirn, den Anblick zu verarbeiten. Der metallische Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Eine schwermütige Melodie umschmeichelte düster ihre Ohren.
Vor dem Altar lag eine undefinierbare Masse aus grausam verunstaltetem Fleisch auf dem kalten Boden. Nur die Robe erinnerte an Pater Valentin.
Dahinter stand, völlig im Spiel seiner Violine versunken, Johannes.
Der Junge besaß das Gesicht von Johannes, aber er war nicht er. Seine Züge zeigten noch immer dieselbe Trauer, doch in ihnen lauerte ein milder Funke, der seinen Augen ein bestialisches Leuchten verlieh. Er glich einem Raubtier und war doch kein Raubtier.
Alessia taumelte und prallte gegen eine der Kirchenbänke. Johannes sah sie, aber unterbrach sein Spiel nicht. Er lächelte versonnen und nickte ihr zu. Seine Augen jagten Alessia einen Schauer über den Rücken. Sie wirkten wie die Augen eines lebenden Toten.
Johannes ließ das Lamento ausklingen und setzte die Violine ab. Er seufzte und schloss einen Moment lang die Augen. Erst jetzt erkannte Alessia die blutigen Haken an seinem Gürtel.
„Inspektorin“, murmelte er. „Guten Abend.“
Alessia wollte antworten. Sie hatte mit allem gerechnet. Sie hatte sich in diesem Dorf beweisen wollen. Nun war sie völlig unfähig, auch nur ihre Dienstwaffe zu ziehen.
„Warum?“, krächzte sie mühsam.
Johannes‘ mattes Lächeln brach ihr das Herz. Einen Moment lang sah er wieder genauso aus wie in seiner Wohnung.
„Sie würden es nicht verstehen“, murmelte er. „Starke Menschen wie Sie können Schwäche nicht begreifen.“ Er lachte freudlos auf. „Das ist unser ewiges Dilemma.“
Alessia wurde beinahe schwarz vor Augen. Sie musterte ihn anklagend.
Johannes trat näher. Seine Augen loderten.
„Die Bestie ist in meinem Inneren“, flüsterte er. „Warum zertreten Sie eine Fliege? Warum verspotten Sie andere Menschen?“ Sein Gesicht schwebte unmittelbar vor ihrem. Alessia hielt unwillkürlich die Luft an. Er legte langsam seinen Schal ab.
„Das ist die Antwort.“
© Alexander Hörl 2021-08-06