von Jürgen Artmann
Aimée und ich hatten für zwei Wochen im Sommer ein Chalet in den Vogesen gemietet. Wir wollten Verwandte und Freunde einladen und eine schöne Zeit verbringen. Das taten wir auch. Aimées Eltern blieben ein paar Tage. Freunde von ihr kamen auf ein Essen vorbei. Sogar aus Deutschland kamen Freunde vorbei und blieben eine Weile. Wir wanderten, kochten, backten dutzende von Flammkuchen, aßen, tranken und diskutierten. Es war herrlich.
Eines Abends, als wir auf unser Zimmer gingen, saß eine Meise in unserem Zimmer. Sie war noch flugfähig, aber irgendwie hatte sie sich verirrt. Sie ließ sich ohne Widerwehr von Aimée einfangen und auf das Geländer des Balkons setzen. Sie schaute noch einmal in unsere Richtung und flog davon.
Aimée schaute mich einigermaßen zufrieden über die gelungene Rettungsaktion an. Ich war sofort ernst und traurig. Man sah mir das an und Aimée erkundigte sich, was ich habe.
Meine Mutter hatte es mir immer erzählt. Sie ist abergläubisch und auch, wenn ich nicht viele Charakterzüge meiner Mutter übernommen habe, so ist das doch eine Sache, die auch auf mich zutrifft.
„Fliegt ein Vogel in dein Haus, stirbt noch im gleichen Jahr ein Verwandter˝, sagte sie immer. Der Aberglaube ist in Osteuropa weit verbreitet. Meine Mutter stammt aus Oberschlesien, das war schon östlich genug, um daran zu glauben.
Ich war nachdenklich. Kurz nach dem Urlaub besuchte ich nach längerer Pause einmal wieder meine schon sehr alten Eltern. Man konnte nie wissen.
Im Dezember des gleichen Jahres starb mein Vater.
© Jürgen Artmann 2022-05-11