von Derya Sevindik
Ich sehe den Nebel immer weiter auf mich zukommen. Mit jeder weiteren Minute verdichtet es sich, so sehr, dass ich die Sicht auf alles, was ist und mal war verliere. Ein bedrückendes Gefühl erfüllt mich, eine in mich verschlungene Schwere nimmt die Kontrolle über Gefühl, Wahrnehmung und Erinnerung ein. Ob erfüllende oder niederschlagende Momente, sie werden durch eine verzweifelte Energie festgehalten. Der letzte Sandkorn fügt sich dem angehäuften Sandberg hinzu. Plötzlich löst sich die kraftvolle Umarmung auf. Die Schwere verschwindet im dichten Nebel. Eine in sich zusammensackende Leere wird zurückgelassen.“Und, was passiert jetzt?“, fragte ich, den in einem lauten Spielplatz sitzende alten Mann, der sein weißes Pferd streichelte. „Du gehst auf Reise“, antwortete der alte Mann, der sich weiterhin um das Pferd kümmert. Ein kleiner Junge läuft quer durch den Spielplatz. In seiner Hand hält er ein Flugzeug hoch, lässt es während er läuft in der Luft schweben. Er stolpert, fällt zu Boden und verletzt sich. Die Mutter eilt dem weinenden Jungen zur Hilfe. Nachdem er kurz sein blutendes Knie betrachtet hat, steht er wieder auf, nimmt sein Flugzeug und läuft wieder kreuz und quer. „Ist das meine erste Reise? Ein bekanntes Gefühl brach vorhin in mir aus.“ „Es kann schon deine dritte oder vierte Reise sein. So genau weiß ich es ja auch nicht. Ich kann doch nicht alle Reisen mitzählen“. „Hm. Ich kann mich an keine dieser Reisen erinnern. Ich fühle sie nur in mir, wie eine aufdringliche, mächtige und energiegeladene Kraft, gleichzeitig fühlt sie sich auch sehr sanft und warm an, wie eine weiche Decke an Wintertagen. Auch vorhin erst überkam mich eine Angst, ich wollte nicht loslassen und hielt so stark daran fest“. Ich erzähle dem alten Mann von meinem Erlebnis und demonstriere ihm das plötzlich in mir auftauchende Gefühl und breitete dabei meine Arme ganz weit aus. Der alte Mann bricht in einem sich stockenden Lachen aus. Sein Atemzug reicht nicht für einen vollen Durchzug, so schnappt er zwischendurch nach Luft und lacht dann weiter. „Ich glaub´, ich möchte nicht mehr reisen. Ich fühle mich nicht sehr wohl dabei, alles wieder und wieder zu erleben. Jetzt ist es zurückgelassen und vielleicht sehr einsam“. Plötzlich sind wir nicht mehr auf dem Spielplatz. Das Pferd ist verschwunden. Der alte Mann und ich sitzen auf einer Bank. Vor uns liegt das weite blaue Meer. Ich schließe meine Augen und höre den lauten Wellenschlägen zu. „Hörst du das Meer? Es ist das Geräusch der endlosen Bewegung. Nichts bleibt stehen und es gibt für niemanden eine Auszeit. So wie alles und jeder sich immer und ohne Ausnahme weiter bewegt, so ist auch jeder nur ein Reisender. Und so wie jeder Reisende zu einem anderen Ort weiterzieht, sind sie gezwungen aufs Neue loszulassen. Niemanden gehört irgendwas auf immer und ewig“. Mit seinen letzten Worten verschwindet auch das Meer vor mir, die Bank löst sich auf und der alte Mann und ich stehen uns gegenüber. Wir sind inmitten einer Leere und auch nicht. Es erfüllt mich wieder ein sanftes, vertrautes Gefühl, gleichzeitig setzt es mich in furchtbare Angst. Jetzt erst schaue ich dem alten Mann direkt in sein unerkennbares Gesicht. „Es ist Zeit, Wanderer“, sagt der alte Mann und ich wanderte weiter. „Deine Letztee„. Plötzlich höre ich die hallende Stimme des alten Mannes. „WAS?“, schreie ich, ohne zu wissen, ob meine Stimme ankommt. Es kam nur eine kurze Antwort zurück: „Gute Reise, Kâmil!“
© Derya Sevindik 2024-04-23