von Simone Schmid
Ungläubig starre ich mein Handydisplay an. Steht da gerade wirklich dein Name? Mit viel Staunen nehme ich ab und kann kaum glauben, dass wir ganz locker und leicht miteinander plaudern. Gibt es nach all den Jahren eine gelebte Realität, in der wir mit alten, verhassten und doch akzeptierten Mustern brechen? Schaffen wir es wider jede Erfahrung vernünftiger, liebevoller und reifer mit unserer Verbindung umzugehen? Ist der Schmerz verschwunden oder macht er nur gerade irgendwo am anderen Ende der Welt Urlaub und hat uns schlicht vergessen?
Noch während ich diese Sätze schreibe, habe ich so etwas wie gesunden Respekt davor, dass ich die Situation, die diesmal nicht eingetreten ist, dadurch herbeischreiben könnte, dass ich so ungläubig darüber bin, dass sie nicht eingetreten ist.
Unsere Vergangenheit hat mich gelehrt, dass auf die größte Nähe die kälteste Eiszeit folgt. Diese Regel galt in unserer Welt bisher als eine Art Naturgesetz. Diese meist abrupte, schmerzhafte Distanzierung braucht eine Phase der Provokation, der Vorwürfe und der Verachtung des eigenen Selbst. Nur ist es heute so, dass ich nicht nur dich nicht – was ich noch nie wirklich konnte – verachten kann, sondern dass ich nicht einmal ein Fünkchen von Geringschätzung für mich selbst empfinde.
Meine Zuneigung, meine Liebe zu dir hinterlässt trotz unserer Situation keinen dunklen Schatten, kein Gefühl der Herabsetzung und keinen Drang danach, sich selbst zu verachten. Perfekt sind wir beide bis heute nicht und vieles was zwischen uns vorgeht, passt in keinen Rahmen, den auch nur irgendwer als „normal“ definieren würde und doch ist alles in Ordnung. Wir sind endlich in Ordnung. Es gibt keinen Grund mehr, sich einer illusorischen Vorstellung zu unterwerfen: Der Wunsch nach makellosen Umständen hat sich verflüchtigt. Wir sind, wer wir sind, wir teilen, was wir teilen.
Dieses Gleichgewicht wird nicht anhalten. Dies ist der Grund, es umso mehr zu genießen. Das Leben hat mich noch bei weitem nicht genug gelehrt, dennoch weiß ich, dass Phasen wie diese dazu dienen, Energie zu schöpfen, Kraft zu tanken, um die kommenden Hürden, wenn schon nicht mit Eleganz, so doch mit einer gewissen Würde zu überwinden.
Unsere Geschichte hat mich oft hinterfragen lassen, worin meine menschliche Würde besteht. Welche Grenzen ich nicht überschreiten kann und welche ich dich nicht überschreiten lassen darf. Faszinierend für mich ist, wie biegsam der menschliche Geist ist, wie viel Raum in alle Richtungen existiert, um sich zu verändern, sich auszuprobieren – wie viel möglich ist, wenn man einem Menschen bedingungslos vertraut und sich darauf verlässt, dass die Liebe alles übersteht.
Ich liebe dich, weil du mich dazu bringst, mich permanent meinen eigenen Grenzen zu stellen und mich dazu zwingst, auch die Schranken aufzubrechen, die meine Welt so fest zusammenhalten.
Ich liebe die Liebenden, weil sie den Menschen, die sie lieben, so viel Potential für Entwicklung schenken.
© Simone Schmid 2022-04-07