von Dino Medic
Diese Geschichte ist einem besonderen Mann gewidmet. Er ist ein weiser Mann, ein Mann, der mit wenigen Worten alles sagen konnte. Seine Augen schienen immer trüb, aber er erkannte in Wirklichkeit alles klar.
Er hat lange Zeit kein Wort mit mir gewechselt, man sah sich immer aus der Ferne, beim Vorbeigehen. Beim gemeinsam auf die Straßenbahn warten. Erst nach sehr langer, wirklich langer Zeit, entwich ihm dann eine ganz eine feine Bewegung, fast nicht zu erkennen, weil, beim ersten Mal sehr schnell ausgeführt. Es bewegte sich nur ein Körperteil, während er mich ansah, kippte ganz kurz sein Kinn nach unten. Es war ein Nicken.
Seitdem nickten wir uns sporadisch zu. Das höchste der Gefühle, beinahe schon exzessiv, war vor einiger Zeit eine begleitende Maßnahme des Mannes. Es schien bei einem der letzten Male, aber ich kann mich auch irren, denn es schien fast unglaublich, dass während dem Nicken seine Augen sich kurz schlossen. Eine Art freundschaftliches Nicken gepaart mit kurzzeitigem, aber gewollten, Augenschließen und recht langsamen Wiederöffnen. Wie bei einer Katze, die langsam Vertrauen schöpft und seinem Gegenüber für einen Augenblick Zuneigung zeigt, in dem sie die Augen verschließt und zwinkert. So schien sich unsere Beziehung immer mehr zu vertiefen.
Der weise Mann, und ich nenne ihn den weisen Mann, weil er in unserer hektischen Zeit, voller Informationen und Reizüberflutungen den Überblick behält. Wenn also, ich sag mal, in die Straßenbahn eine Frau mit Kinderwagen einsteigen will, dann ist er schon längst aufgestanden und hat seinen Platz freigemacht, die Frau wusste nicht mal, dass er da war. Doch es war auch seine Art, die ihn in meinen Augen zu einem Weisen unserer Zeit macht.
Ich habe viel durch ihn gelernt und auch, dass jeder sein Leben anders gestaltet und andere Vorstellungen davon hat, und man jeden in seinem Bestreben nach einem guten Leben tolerieren und helfen soll. Auch wenn es einem selbst vielleicht weh tut.
So lernte ich den weisen Mann kennen und ich beobachtete ihn lange und er beobachtete mich lange, denn er beobachtete alles. Ich überlegte, ob denn unsere innige Beziehung irgendwo hinführte, mich vielleicht an einen Ort, vielleicht sogar an die Quelle, seiner Weisheit bringen würde. Ich rang damit, ob unsere tiefsinnigen Gespräche mit unseren Augen sich jemals stimmlich manifestieren würden.
Es war kurz vor Weihnachten, an der Station waren nur wenige Leute gestanden, und ich fasste mir ein Herz. Ich wollte mit ihm reden, alles erzählen, ich dachte, er hatte für alles eine Lösung.
Ich ging hinüber zu ihm, seine Augen rissen auf und beruhigten sich dann wieder.
“Ich habe ihnen soviel zu sagen, weiser Mann”, sagte ich fast verlegen, ob meiner Impertinenz ihn anzusprechen.
Der weise Mann starrte mir in die Augen, seine Augen funkelten und er sprach langsam: “Hier bei mir wächst Pfeffer, geh du woanders hin.”
Der weise Mann lächelte und stieg in die Straßenbahn. Schmäh hat er, der weise Mann.
© Dino Medic 2021-12-14