Der werdende Vater

Sabine Perkuhn

von Sabine Perkuhn

Story
Hamburg

23 Minuten. Vor 23 Minuten hat sie ihn angerufen und jetzt steht er hier, kommt keinen Meter vor oder zurück. Dabei muss er zu ihr, bevor es zu spät ist.

Janos streckt den Hals, stemmt sich aus dem Sitz hoch, so gut es eben in dem kleinen Polo geht und versucht zu erkennen, was vorne geschieht. Durch die vor ihm stehenden Autos kann er kaum etwas sehen. Einige Personen in orangen und gelben Westen, das Blaulicht mehrerer Polizeiwagen, die Ecke eines Krankenwagens. Beim Anblick des Krankenwagens wird ihm schlecht. Charline ist in einem Krankenwagen. War, korrigiert er sich, jetzt ist sie im Krankenhaus, bei einem Arzt. Bei vielen Ärzten und Schwestern und Pflegern, die sich alle um sie kümmern und ihr helfen. Er versucht, ruhig zu atmen, sich zusammenzureißen, seine Gedanken unter Kontrolle zu halten.

Ein Blick aufs Handy, 26 Minuten. Scheiße scheiße scheiße!

Er kann nicht länger hier warten, es geht einfach nicht weiter. Er muss los, muss zu Charline! Er sieht sich um, in welcher Straße ist er, wo ist die nächste U-Bahn? Habichtstraße? Und von hier zum Krankenhaus? Wenn er zur Station sprintet und die Bahn sofort kommt – aber nein, hatte Petra nicht was von Schienenersatzverkehr gesagt? Und Petra, verdammt, er hatte seiner Chefin nicht Bescheid gegeben, als er aus dem Büro gestürmt war, hatte nicht mal den Computer ausgemacht. Aber das ist egal, alles ist jetzt egal, sollen sie ihn doch abmahnen oder feuern oder was auch immer, nichts ist jetzt wichtig außer, dass er rechtzeitig zum Krankenhaus kommt.

Er steigt aus, will nach vorne, will wissen, wann es weitergeht. Eine Polizistin mit hartem Gesicht weist ihn an, wieder einzusteigen. Auf seine Fragen zuckt sie mit den Schultern.

Janos steht an der Autotür, ein Fuß im Wagen, der andere auf der Straße.

Es war zu früh, viel zu früh. Zwei Monate hätten sie noch haben sollen, und ja, sie wussten, dass es eine Risikoschwangerschaft war, Zwillinge sind immer ein Risiko, kommen gerne zu früh, aber machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns drum, wenn es tatsächlich dazu kommt, hat die Ärztin gesagt, Charlines Frauenärztin und die muss es doch wissen, das ist schließlich ihr verdammter Job, sich um Schwangere zu kümmern und Babys auf die Welt zu bringen. Also haben sie ihr vertraut und sich keine Sorgen gemacht. Charline ist zur Arbeit gegangen und zum Yoga, ganz normal. Und er – er auch, auch heute, woher sollte er wissen, dass es ihr nicht gut gehen wird, aber wahrscheinlich hätte er es wissen müssen, als werdender Vater, als Ehemann. Aber er hat nicht aufgepasst und jetzt ist Charline im Krankenhaus. Blut und unfassbare Schmerzen, mehr hat er nicht verstanden in dem kurzen Telefonat, keine halbe Minute hat es gedauert.

Aus dem Auto neben ihm blickt ihn ein kleiner Junge an. Er sieht noch einmal nach vorn, es bewegt sich nichts. 29 Minuten. Er dreht sich um und rennt.

© Sabine Perkuhn 2023-07-31

Genres
Romane & Erzählungen