Der Zauber der Worte

Gabriele Leeb

von Gabriele Leeb

Story
Waldviertel 2025

Sie lag nackt und mit zerzausten Haaren auf dem Teppich und atmete schwer.

Sie schaute auf den großen Mann neben ihr. Er roch nach Schweiß und Sandelholz und hatte sie gerade wirklich mit ihm geschlafen? Sie, die Zarte, die Unnahbare?

Erst vor zwei Stunden traf sie ihn in der Bibliothek und sofort war sie fasziniert von ihm. Er war beinahe 30 cm größer als sie und wirkte irgendwie wild und ungehobelt. Doch der erste Eindruck täuschte, er studierte Literatur und zitierte Liebesgedichte. Ganz leise, im Flüsterton neben ihr. Seine Stimme war warm und einschmeichelnd, irgendwie zärtlich. Sie schloss die Augen und lauschte nur und seine Worte wühlten sie auf, erregten sie. Sie öffnete ihre Augen und starrte gebannt auf seinen Mund. Er spürte ihre Erregung und sie übertrug sich auf ihn.

Plötzlich stand er auf und sein Blick sagte: Komm, folge mir. Sie packte ihre Tasche und lief hinter ihm her. Draußen auf der Straße nahm er ihre Hand und zog sie in das nächste Haus. Der Flur war dunkel und er drehte kein Licht auf. Heiser raunte sie ihm ins Ohr, er solle bitte weiter reden: „Deine Stimme, deine Worte sind wie Berührungen auf meiner Haut.“

Die Liebesworte glitten über ihren Körper und hinterließen Spuren voller Sinnlichkeit auf ihr. Es war ihr, als würden lauter kleine Flammen auf ihr brennen. Er sehnte sich danach, sie zu küssen, doch dann konnte er nicht sprechen. Also, was tun? Er nahm drei Gedichte auf seinem Handy auf und spielte sie in Endlosschleife ab.

Das Ganglicht flammte auf und ein Paar ging an ihnen vorbei: „Ihr solltet euch ein Zimmer nehmen. Nebenan ist ein Hotel!“

Er schaltete sein Handy aus und Hand in Hand eilten sie ins Hotel und buchten ein Zimmer für eine Nacht. Sie sperrten die Tür auf und zogen schon im Vorzimmer ihre Kleidung aus. Im Badezimmer lag ein großer, weicher Teppich, darauf fielen sie nieder. Er begann erneut Liebesgedichte vorzutragen und seine Stimme ließ die Worte lebendig werden mit all ihren Emotionen, einfach betörend und sie liebten sich dazu leidenschaftlich auf dem Boden. Der Zauber der Worte trug sie fort ins Paradies.

Es ist Nacht,

und mein Herz kommt zu dir,

hält’s nicht aus,

hält’s nicht aus mehr bei mir.

(Christian Morgenstern)


Foto: Pinterest/Sternenvogel Verlag/Glitzernde Worte




© Gabriele Leeb 2025-07-09

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Inspirierend