Der Zauber von Berlin

Ana_Hutmacher

von Ana_Hutmacher

Story

Zum ersten Mal in der Hauptstadt war ich mit 17. Die Erinnerung daran ist schon etwas verblasst und besteht aus Schlaglichtern:

Aus einem ersten Schlaglicht, als ich auf einem verlassenen Autobahnparkplatz in aller Herrgottsfrühe in einen Reisebus steige – voller Aufregung auf das Internationale Deutsche Turnfest in Berlin. Pausen an anonymen Raststätten. Meine Beteiligung an hochgradig peinlichen Workout-Einlagen an den unmöglichsten Plätzen. Unser Gekicher. Wegen des heißen Turners, der mit uns im Bus sitzt. Wegen der vielen fremden Leute. Wegen, na ja, so ziemlich allem eigentlich.

Das zweite Schlaglicht fällt auf ein Klassenzimmer einer Grundschule mitten in Marzahn. Auf die mitgebrachten Matratzen, auf denen wir versuchen, es uns gemütlich zu machen. Die nachts die Luft verlieren. Von denen wir im Schlaf herunterkullern. Um dann am nächsten Morgen mit steifem Nacken aufzuwachen. Nicht ganz so erfrischt für einen Tag, an dem wir Leistung bringen sollen. Noch weniger, als wir uns wenig später mit unserem Frühstück konfrontiert sehen: Schrippen. Mir wird heute noch ein bisschen übel, wenn ich an diese seltsam geratenen Milchbrötchen zurückdenke, die uns mit Wurst und Käse serviert worden sind. Was hätte ich nicht alles für einen richtigen Semmel getan!

Das dritte erhellt zwei Wachmänner, die vor unserem Speisesaal sitzen. Und mich, die ich mich an sie wende: ,,Wollt’s ihr au‘ no’n Kaffee?“ Eine Sekunde vergeht. Eine weitere. Keine Reaktion. Kein Blinzeln. Nur ein leicht irritiertes Starren aus zwei verschiedenen Paar Augen. Bis sich meine Wangen vor Scham röten und eine Erkenntnis in mein Bewusstsein sickert. Über meinen leichten Dialekt und den Dorfkind-Charme.

Im vierten Kegel ist ein Bus zu sehen. Eine S-Bahn. Eine U-Bahn. Viele verschiedene Leute, die viele verschiedene Leben leben. So viele an einem Ort. Wir schauen und schauen und schauen aus dem Fenster, die Straßen entlang, überallhin. Es ist faszinierend und doch fühlen wir uns ein bisschen erschlagen. Müde allein schon vom Zusehen. Ein bisschen fehl am Platz.

Das fünfte begleitet uns in Kaufhäuser, die so unfassbar groß sind, dass wir uns darin zu verlieren drohen. Zur obligatorischen Currywurst-Bude. In einen Essence-Maker-Shop. Zum Alex. Zum Brandenburger Tor. In einen Starbucks. Zum Checkpoint Charlie, an dem wir kichernd um ein Selfie mit einem der dort posierenden Soldaten bitten. Vorbei an wunderschöner Straßenkunst. Und natürlich ins Messe-Gelände. Vor allem ins Messe-Gelände. Denn dort fand das Turnfest schließlich statt.

Das zweite Mal war ich 21 und genoss jeden einzelnen Wimpernschlag.

Was an Berlin so bezaubernd sein soll? Vermutlich ist die Antwort so einfach wie kompliziert: In Berlin wohnen unfassbar viele Menschen. Unzählige machen sich Tag für Tag für Tag auf den Weg dorthin. Alle verbinden sie etwas mit dieser Stadt. Haben Erinnerungen, die mit ihr verknüpft sind. Und machen die ihn nicht aus? Den Zauber von Berlin.

© Ana_Hutmacher 2022-03-19

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