von EllaMelody
8 Uhr morgens. Er steht am Bahnhof. Der Regen prasselt auf ihn hinab, kalt, unbarmherzig. Der Bahnhof ist heruntergekommen, scheint zu zerfallen und überall stehen Leute, drängeln sich vorbei. Er erinnert sich an bessere Tage. Wie den warmen Sommertag vor ein paar Jahren. Da standen sie gemeinsam hier und doch in ihrer eigenen Welt. Er war in ihren Augen versunken, so blau, wie der Himmel an diesem Tag. Das erste Date von vielen. Wenn er nun hier steht, spürt er nichts mehr von dem Zauber, nur das eisige Regenwasser, das ihm den Rücken hinunterläuft. Doch hier kommt schon sein Zug. Er steigt ein, mit einer Menge anderer Leute, irgendwelcher Jemands, die er nie gesehen hat und auch nie wiedersehen wird. Im Zug sind alle Sitze belegt, also kauert er sich neben die Tür und sieht den Regentropfen zu, wie sie an der Fensterscheibe hinunterlaufen.
Ruckelnd hält der Zug an der ersten Haltestelle. Stumm steht er da, lässt andere vorbei. Endlich schließen die Türen sich wieder, doch er erhascht einen letzten Blick auf den Bahnsteig und den indischen Imbiss, bei dem sie so oft gegessen haben. Schließlich war ihre Uni ganz in der Nähe und sie kamen oft hier vorbei. Noch heute liegen einige der billigen Flyer aus dem Imbiss auf seinem Nachttisch. Zu ihrem ersten Jahrestag waren sie dort. Zu ihrem zweiten. Und dritten. Zu einem vierten kam es nicht. Nun ist es schon lange her, dass er das letzte Mal dort war. Doch die orange bemalte Fassade und das schief hängende Eingangsschild wecken fast verblichene Erinnerungen in ihm. Auch als der Zug langsam wieder anfährt, ist er in Gedanken noch mit ihr im Imbiss.
Aber an der nächsten Haltestelle verfliegen die Gedanken an indisches Essen. Er ist in der Stadt angekommen, in dem das Ende seinen Anfang nahm. Nur zu gut erinnert er sich an das Konzert ihrer Lieblingsband in der örtlichen Konzerthalle. Er hatte extra Tickets besorgt und alles organisiert. Und dann in der randvoll mit Glück angefüllten Stimmung fragte er sie, ob sie ihn heiraten würde. Sie sagte ja und er war so betrunken vor Freude, dass ihm ihr Zögern, der Schatten, der sich über ihr Gesicht legte, nicht von Bedeutung erschien. Er hielt an diesem Wort fest. Ja. Heute ist ihm bewusst, dass ein Ja nichts bedeuten muss. Doch damals sah er es nicht, blind vor Liebe. Vielleicht wollte er es auch einfach nicht sehen.
Mit einem Zischen schließen sich die Türen. Der Zug fährt schneller und schneller. Es scheint nur Sekunden zu dauern, dann ist er an der letzten Haltestelle. Eine blecherne Stimme befiehlt ihm, den Zug zu verlassen. Er lässt sich treiben von dem Strom aus Menschen, wird auf den Bahnsteig gespült, dann auf die Straßen. Mit gesenktem Kopf läuft er durch die Straßen. Er will, kann diesen Ort nicht mehr sehen. Nur zwei Straßen von hier haben sie gemeinsam gewohnt. Und dann hat sie ihm, nur drei Straßen von hier, gesagt, dass es aus sei. Dass sie ihn einfach nicht mehr lieben würde und die Hochzeit ein Fehler sei. Kein Streit, kein Drama. Kein episches Ende für ihre Liebesgeschichte. Es war aus. Einfach so. In einem kurzen Moment zerbrach ihre Zukunft in tausende Splitter. Viele Jahre ist es nun her. Freunde sind sie laut ihr noch immer. Doch für ihn bleibt sie seine große Liebe. Und das macht es ihm so schwer, so unfassbar schwer. Denn vier Straßen von hier wird sie heute heiraten. Nur nicht ihn.
© EllaMelody 2023-07-21