Der Zugestiegene

Christian König

von Christian König

Story

Wie immer suchte ich mir meinen Sitzplatz in den hinteren Waggons des Zuges. Damals führten die Österreichischen Bundesbahnen noch Abteilwägen für jeweils sechs Personen, mit Vorhängen zum Verhängen der Türe und einem Fenster, das sich tatsächlich auch öffnen ließ. Zufrieden ein leeres Abteil gefunden zu haben, legte ich wie gewohnt den Lichtschalter über der Türe um, woraufhin ein kleines Nachtlicht das gesamte Abteil in eine Art American Bar Ambiente versetzte. Hatte ich ein Abteil für mich erobert, bevorzugte ich immer den Fensterplatz in Fahrtrichtung. Ich ließ mich in den fauleuitonähnlichen, mit blauem Stoff bezogenen Sitz fallen und muss kurz darauf eingenickt sein.

In St. Pölten wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Die Abteiltür wurde geöffnet, der Vorhang prüfend zur Seite geschoben und ein Mann trat ein. Das erste, was ich von ihm wahrnahm, war sein Geruch. Er roch nach Schweiß und Bier. Der Zugestiegene wählte den mittleren der drei Sitze gegenüber von mir. Verschlafen und verärgert über die plötzliche Geräuschkulisse bzw. die Geruchsbelästigung setzte ich mich auf. Ich überlegte kurz mein Abteil aufzugeben, doch durch die Spiegelung im Gangfenster sah ich, dass die nächsten Abteile grell beleuchtet waren. Ich hasse hell beleuchtete Zugabteile und entschied mich deshalb zu bleiben. Um etwas Frischluft bemüht, öffnete ich die Abteiltüre einen Spalt. Der Zugestiegene beobachtete mich und entschuldigte sich plötzlich für sein Erscheinen mit der Begründung, dass er nicht gerne in grellen Neonlicht-ausgeleuchteten Abteilen säße. Diese gemeinsame Abneigung machte mir mein blond gefärbtes Gegenüber, dessen Stimme exakt den selben Klang wie jene des bekannten österreichischen Schauspielers Georg Friedrich hatte, zumindest ein wenig sympathisch. Dass er jedoch tatsächlich auch noch im selben Jargon wie Georg Friedrich in den Filmen Nacktschnecken und Contact High sprach, ließ die ganze Szenerie mit einem Schlag sehr subtil für mich erscheinen und ich war hellwach. Der Zugestiegene hatte nun meine volle Aufmerksamkeit, denn er war kein Schauspieler, er war echter als echt und er ließ sich in keinster Weise davon abhalten, mir seine Geschichte zu erzählen: “Wast wos oag is? I erinna mi no gaunz genau wia mei Stiefvoda mei Mutter ogstochn hot. I wor no kla, hob oba ollas gsegn! I siach no heit, wia des Bluat ausn Ruckn meina Mutter gspritzt is und i drin ausgrutscht bin!” Es folgte eine Erzählung über eine Kindheit die schockierender nicht sein konnte – dazu die prägnante Stimme und der Jargon – mir wurde schnell klar, “diese Geschichte wirst du ein Leben lang nicht mehr los”, doch ich hörte sie mir bis zum Schluß oder besser gesagt bis Attnang-Puchheim, wo ich den Zug verstört verließ, an: “Wast des oage is, wia a ausn Hefn kumma is, hot a pletzlich wieda an unsara Tia klopft. Wast wos i fia a Angst ghobt hob! Oba mei Mutter is zruck gaungan zu eam. Donn hot a a zweits moi auf sie eigstochn, oba des hots a überlebt!”.

© Christian König 2021-10-15

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