Es war 2017. Der Priester zog mitten in seiner Predigt einen Lippenstift hervor und schminkte sich ruhig und gelassen einen knallroten Mund.
Schief und etwas zu groß.
Irritierte Blicke kreuzten sich in den Reihen der Gläubigen.
Der Priester schloss mit ruhigen Händen und mit einem deutlich hörbaren Klicken die goldglänzende Hülle des Lippenstifts. Er hielt sein Gesicht mit dieser befremdenden Gesichtsbemalung für eine Weile zum Anblick reglos in die Blicke seiner Zuhörer.
Als er sich dann auf den Boden kniete und diesen küsste, wurde dem einen oder anderen unbehaglich.
Aufmerksame Spannung baute sich im Raum auf. Als zweifelte die Menge, ob man nicht umgehend die Kirche verlassen sollte. Er fuhr zunächst ungeachtet des roten Schmatzers, den er auf dem Marmorboden vor dem Altar produziert hatte, in seiner Predigt fort und sprach dabei sehr langsam.
„Wir müssen uns bewusst machen,
dass diese….
nun für Sie…
sichtbar rot markierte Öffnung…
eine große Bedeutung hat!“
„Wir können durch diese Öffnung…“, sagte er, tief Atem holend,
„…eine Menge in uns hinein lassen!“
„Aber ebenso auch aus ihr heraus!“
Jetzt atmete er hörbar aus.
„Worte zum Beispiel.“
Nun folgte eine extra lange Pause. Die Menge wurde sehr still. Es schien, als habe er die Aufmerksamkeit erreicht, die er zu erzielen gehofft hatte.
„Wichtige. Unwichtige. Verletzende oder tröstende Worte. Unnötige, gleich wieder bereute… wahre, unwahre Worte. Vernichtende und aufbauende, trennende oder verbindende“.
Jeder im Raum hing nun gebannt an den grellroten Lippen des Predigers.
Er deutete auf den Boden: „Und dort…wo wir unsere Lippen hindrücken zum Kuss…dorthin bekennen wir unsere Liebe…
setzen dort…
an genau dieser Stelle…
ein sichtbares Zeichen unserer inneren Haltung.
Ob es ein Papst am Boden eines Flughafens tut,
oder die Mutter auf der Stirn ihres Kindes.“
Nie werden mir die Worte dieser Predigt und diese Bilder wieder aus dem Gedächtnis gehen. Seither sehe ich mir die Lippen meiner Mitmenschen an. Waren zuvor die Augen das erste, was ich intensiv von anderen Menschen wahr nahm, so betrachte ich heute ebenso die Münder.
Beobachte, höre, staune, was so in sie hinein geht und was aus ihnen kommt. Und wogegen Lippen gedrückt werden: Andere Münder, Hände, Zigarrenenden, Weingläser, Fußbälle oder die Enden von Schreibstiften.
Und nun sehe ich keine Münder mehr.
Nur noch maskierte.
Diese Öffnung ist wieder deutlich sichtbar markiert.
Aber auch versteckt.
Es heißt, das sehr sei wichtig, um zu verhindern, dass da etwas heraus kommt, was gefährlich sein könnte.
Und frage mich, geht es nur um Viren, oder geht es um Worte?
Werden wir nun weiterhin mit unseren Lippen
nur unter der Maske
unsichtbar
ein Zeichen unserer inneren Haltung setzen?
© Cornelia Morhardt 2020-05-01