Was hatte er sich dabei gedacht? Frisch von der Hochschule, nervös meistens, rot wurde er auch schnell. Das konnte ich nicht deuten, er war der Deutschlehrer. Herr Professor. Ich fand den Draht nicht so recht. Heute glaube ich, dass er Angst vor der Klasse hatte. Als einmal alle eine Stunde früher nach Hause durften, mussten wir eine Schularbeit schreiben. Wir haben gestreikt. Drei haben geschrieben. Die Verräter hatten es schwer, denn wir haben sie belächelt. Gemein von uns. Dafür bekamen sie eine Note. In meinem Heft stand: sie hat sich geweigert, den Aufsatz zu schreiben. Wir waren sechzehn. Dann fiel ihm dieses Thema ein.
“Die Angst als immer wiederkehrender seelischer Zustand im menschlichen Leben.” Was sollen halbe Kinder zu seelischen Zuständen zu argumentieren haben? Ich wählte das Thema. Was ich dazu zu sagen hatte, muss dem Lehrer gefallen haben, denn ich bekam eine gute Note dafür.
Abgesehen von Sorgen, bei Harmlosigkeiten erwischt zu werden, hatte ich ein Angstthema. Als Mitglied in einigen Vereinen war ich abends oft bei Zusammenkünften. Da mein Elternhaus oberhalb des Dorfes steht, musste ich anschließend in der Dunkelheit spät am Abend alleine nach Hause gehen. Nach den letzten Häusern führt die Asphaltstraße steil nach oben, biegt nach rechts und mündet in eine lange Gerade gegen Norden, die in einer Haarnadelkurve wieder nach Süden wendet. Ein gutes Stück Weg in der Dunkelheit. Ein anderer Weg führte steil aufwärts durch das Feld, dicht am Laubwald vorbei, der rauschte. Raschelte. Ächzte. An diesem Wald vorbeizugehen, oder gar durch diesen hindurch, war todesmutig. Das Herz pochte bis zum Hals und zum Laufen war das Gelände zu steil. Fala hieß der Steig durch die Kastanienbäume hindurch. Gruselig. Mit meiner Freundin hatte ich ein Rufritual eingeführt. Wir riefen uns so lange “gute Nacht” zu, bis wir nichts mehr hörten. Jedes Mal war ich in Bedrängnis, denn lieber hätte ich die Abkürzung genommen. Der Wald war so gespenstisch. Eines Tages habe ich mich gestellt und ihn bezwungen. Vor die dunklen Schatten der hohen Bäume stellte ich mich. Knorrige Kastanien und Nussbäme, ein paar Birken vielleicht, die rauschten in der sonst geräuschlosen Nacht. Genau erinnere ich mich an meine Gedanken. Bei Tag ist es ein lichter Laubwald. Was soll da sein? Wenn es raschelt, ist es ein Igel, oder eine Maus. Wenn es rauscht, ist es der Wind. Stets war da die Hoffnung, dass zu später Stunde noch ein Auto käme und mich ein Stück mitnehmen würde. Erleichtert stets, wenn die Scheinwerfer die Straße erhellten. Dabei sind fremde Menschen in fremden Autos die einzige mögliche Gefahr für ein junges Mädchen. Da konnte höchstens noch jemand aus dem Gasthaus spät nach Hause fahren. Ich hatte Angst vor dem Wald und habe ihn bezähmt. Bei Tag vorgestellt mit Igeln und Mäusen. Was gäbe ich darum, meinen Aufsatz heute lesen zu können. Wo hatte ich diese mentalen Techniken her? An dem Angstwald bin ich irgendwann gemütlich vorbeispaziert.
© Elisabeth Kinigadner 2021-10-31