von Lia
1987
Ich war vier und saß unter unserem Kirschbaum. Über mir raschelte das Laub. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und betrachtete das schaudernde Blätterdach, hinter dem die Sonne hie und da hervorblitzte. Dann kniff ich die Augen ein wenig zusammen und lachte. „Diamanten!“
Unser Garten hatte mich zum ersten Mal verzaubert.
In den darauf folgenden Jahren lernte ich seine Magie immer besser kennen. Nicht nur konnte sie mich Diamanten in Kirschbäumen sehen lassen, sie konnte Farben leuchtender und Düfte intensiver machen, Zeit strecken oder verkürzen, Entfernungen je nach Bedarf verändern und alltäglichen Dingen ein anderes Erscheinungsbild geben. Eingebettet in der zauberhaften Welt, die seine Magie für mich schuf, erlebte ich in unserem Garten die fantastischsten Abenteuer. Selbst im Tiefschlaf in der Hängematte war sie für mich da und drehte den Lautstärkeregler meiner Umgebung auf ein sanftes, einlullendes Rauschen.
1998
Es stand nicht zum Besten um mich – innerlich wie äußerlich. Mein Hirn war ein überdrehtes Konglomerat aus dem, was ich glaubte sein zu müssen, dem, was ich sein wollte, dem, was ich war und dem, was mir andere suggerierten zu sein. Alles war unendlich kompliziert geworden. Alles.
„Ich geh’ in den Garten!“ Ein Satz, wie tausend identische, die ich in der Vergangenheit in mein Elternhaus gerufen hatte, nur um ein vielfaches gereizter. Mein Morgen war bescheiden verlaufen. Sogar mein angebrannter Frühstückstoast hatte mich schief angesehen, als wäre sein Zustand eine direkte Folge meiner aus den Fugen geratenen Welt. Ich sehnte mich nach einfachen, sicheren Empfindungen und hoffte sie an dem Ort zu finden, auf den ich mich bisher stets hatte verlassen können.
Es empfing mich ein sonnendurchfluteter, duftgetränkter, sattgrüner Frühlingstag. Voller Vorfreude zog ich meine Schuhe aus, grub meine Zehen ins kühle Gras, atmete tief ein und wartete… Irgendetwas stimmte nicht. Meine Gefühle waren nicht die, die ich hätte haben sollen. Verunsichert streifte ich umher, schnupperte an meinen Lieblingsblumen, besuchte meine Lieblingsplätze. Mit aller Kraft versuchte ich herauf zu beschwören, was ihr Anblick bisher in mir ausgelöst hatte. Auf einmal blieb ich stehen. Nun wusste ich was es war. Voller Vorahnung hob ich den Blick und sah: unseren Garten – nicht mehr und nicht weniger. Die Magie war verschwunden. Ohne Vorwarnung, ohne Laut hatte sie sich aufgelöst und mich zurückgelassen, mit meinen öden Alltagsaugen und komplizierten Emotionen. Heiße, entzauberte Tränen rannen mir über die entzauberten Wangen, tropften auf entzauberte Gänseblümchen und versickerten im entzauberten Rasen. Nichts außer Erinnerung war mir von meiner geliebten Welt geblieben. Da kam mir ein Gedanke. Ich ging zu unserem Kirschbaum, setzte mich, legte meinen Kopf in den Nacken und kniff die Augen ein wenig zusammen. Durch meine Tränen hindurch musste ich lächeln. „Danke.“
© Lia 2021-04-25