Dick und hässlich

Isabel Jahn

von Isabel Jahn

Story

In ihrer Klasse reden 2 Schüler mit ihr, als sei sie ein normaler Mensch. Die Anderen haben nur abfällige Blicke für sie übrig. Aber das ist ok, solange sie ihr nichts tun. Denn es gibt genug andere Schüler, die sie täglich boxen, schupsen oder als fette hässliche Sau beschimpfen. Eines Tages stürzt sie im Treppenhaus, als ihr von hinten jemand einen Stoß verpasst. Massen stürmen an ihr vorbei. Mit der Hand greift sie nach dem Treppengeländer, um nicht mitgerissen zu werden. Auf allen Vieren kämpft sie sich durch die Menge und schleift sich in eine abgelegene Ecke. Tritte bleiben nicht aus. Weinend sitzt sie am Boden ihres Zufluchtsortes und wartet den Ansturm ab. Erst als das Treppenhaus leer ist, wagt sie sich aus ihrem Versteck. Glücklich war sie schon lange nicht mehr. Der Gedanke, dem Leben ein Ende zu setzen, geht ihr immer wieder durch den Kopf. Aber sie hatte ihr Leben lang vor alles und jedem Angst. So ist sie auch dafür zu feige. Heute hat sie allerdings eine Entscheidung getroffen: Wenn sie abnimmt, wäre sie nicht mehr hässlich und dann würde ihr bestimmt auch niemand mehr weh tun. So entschließt sie sich, nichts mehr zu essen. Das ist nicht leicht. Denn essen tröstet. Zumindest kurzzeitig. Aber sie wandelt den Trost in Bestrafung um. Also ißt sie nichts, um sich dafür zu bestrafen, dass sie hässlich und minderwertig ist. Das Abnehmen gelingt ihr. Ein Schülerpraktikum führt sie in einen Friseurladen, wo sie nach und nach umgestylt wird. Sogar die blonden Wimpern werden ihr gefärbt. „Wow, du hast Wimpern bis zum Himmel!“, staunen die Angestellten. Und ihre vollen Haare mit dem Rotschimmer sind offenbar auch bewundernswert. Die neuen Blicke bereiten ihr Unbehagen. Wollte sie doch lieber unsichtbar sein, um sich besser verstecken zu können. Ihre Annahme wird bestätigt. Es gibt keine verbale und körperliche Gewalt mehr gegen sie. Schüler in ihrer Klasse zeigen plötzlich Interesse an ihr und gehen offen auf sie zu. Man redet mit ihr und stellt fest, dass sie ein liebenswerter Mensch ist. Sie ist stolz, dass sie das ganz alleine geschafft hat. Aber zu welchem Preis? Sie hat gelernt, dass man es sich verdienen muss, gemocht zu werden. Vorher war sie ungenügend. Ihr inneres Kind ist geprägt von der Vergangenheit. Sind diese neuen Freunde denn überhaupt echt? Und sie selbst? Wer ist aus ihr geworden? Ist sie jetzt ein besserer Mensch, nur weil ihre Hülle besser ausschaut? Es fühlt sich jedenfalls nicht so an. Allerdings ist seitdem alles besser geworden. Aber der Kampf ums Gewicht begleitet sie weiterhin. Mal ist sie dick, mal dünn. Ein ewiger Ballast, der sie nie loslassen wird. Andere fügen ihr keinen Schaden mehr zu. Allerdings hat sie einen neuen Gegner. Sie selbst ist nun der Feind, mit dem es gilt, Frieden zu schließen. Schließlich war sie ein hässliches Monster, dass vernichtet werden musste. Ihr Kopf wünscht sich frei zu sein. Frei sein von Zwängen und schlechten Gedanken über sich selbst. Ob ihr das jemals gelingen wird?

© Isabel Jahn 2021-06-17

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