von Otto Köhlmeier
Die Großmutter war eine stille Frau. Sie sprach wenig. Nur das, was notwendig war. Sie müsse ihren Atem sparen, sagte sie. Das Leben sei schwer genug. Und viel zu kurz.
Am Abend, wenn wir Kinder im Bett lagen, dann erzählte uns die alte Frau hin und wieder eine Geschichte. Vom Großvater erzählte sie dann öfters. Von seinem harten Leben. Und wie ihn der Tod geholt habe. Auch ihre Geschichten waren kurz und knapp. Und jedes Mal, wenn wir Kinder riefen „mehr, mehr!”, dann meinte sie „morgen wieder”, griff ins Weihwasserkesselchen, strich uns ein Kreuz auf die Stirn und ging aus dem Zimmer.
Viel später erst, als ich ein Jugendlicher beinah schon war und sie auf die Neunzig zuging, wurde sie gesprächiger, die Großmutter. Vielleicht auch deshalb, weil ich nun reicher an Verstand und besser im Zuhören. Von der schweren Zeit, den dunklen Tagen erzählte sie dann. Als sie nichts hatten. Nichts. Als der Hunger Löcher in ihre Bäuche gefressen habe. Und die Menschen Schlange gestanden seien für ein Stück Brot.
Am Lande habe sie damals gelebt, in einem Dorf. In einem winzigen Häuschen mit einem Garten hinten raus. Ein Birnbaum sei da gestanden. Und ein paar Sträucher mit Beeren. Himbeeren. Und Brombeeren. Ihre Tochter, meine Mutter, sei damals ein junges Ding gewesen. Ihr Mann, mein Großvater, sei im Krieg gewesen und erst spät und mit zerschossenem Bein zurückgekommen. Und ihr Sohn, mein Onkel, den habe der Krieg behalten. Allein habe sie meine Mutter großziehen müssen. Darum sei sie dankbar gewesen für das bisschen Garten und den Birnbaum und die Beeren.
Sie seien zwar nie richtig satt geworden von den paar Kartoffeln und Krautköpfen. Und den Birnen und Beeren. Und trotzdem habe sie, wenn die Städter kamen – eine Schwester von ihr mit den Kindern – abgegeben, was sie abgeben konnte. Sie habe nicht hinschauen können, wenn die beiden Nichten vor den Himbeersträuchern standen, klapprig und bis auf die Knochen abgemagert, die Früchte anstarrten und dabei der Speichel aus ihrem Mund tropfte. Kartoffeln und Birnen habe sie in die Schürzentaschen ihrer Schwester gesteckt und sie selbst und ihre Tochter hätten drei Tage kürzergetreten und statt wenig noch weniger zu sich genommen.
Einmal sei es ein Kriegsheimkehrer gewesen, der vorbeikam. Kaum mehr aufrecht habe er sich halten können, vor Müdigkeit und Entbehrung. Natürlich habe sie dem einen Krug Wasser gereicht. Und weil sie nichts anderes hatte, habe sie ihm eine Zwiebel in die Hand gedrückt. Runtergebissen habe er von der, wie von einem Apfel. Und Tränen habe er in den Augen gehabt. Nicht vom Saft der Zwiebel. Nein. Vor Dankbarkeit.
So habe das kleine Stück Garten hinter dem winzigen Häuschen nicht nur sie beide, meine Großmutter und meine Mutter, über die Runden gebracht, sondern auch manch anderes Dasein erleichtert. „So klein es auch war, das Stückchen Land, für uns war es von großer Bedeutung.“ Und ich soll mich umsehen, früh genug, und pflanzen, was immer ich pflanzen könne. Denn man wisse nie.
© Otto Köhlmeier 2021-04-06