von SophieMolloy
Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Wirklich nicht.
Die meisten Leute in meinem Alter befassen sich entweder überhaupt nicht oder viel zu viel mit dem Tod und man muss kein Psychologe sein, um zu erahnen, dass beide Verhaltensweisen auf die ein oder andere Art der Furcht vor der Endlichkeit des eigenen Lebens entspringen. Der Angst vor dem Unbekannten, dem nie dagewesenen und natürlich vor Schmerzen. Wobei ich Schmerzen nicht direkt als Bestandteil des Todes sehe. Schmerzen sind mit einem fühlenden, lebenden Körper verbunden, nicht mit der ruhigen Endgültigkeit des Todes. Und ja, vor ihnen fürchte ich mich natürlich auch, ich hätte einen beeindruckend niedrigen Selbsterhaltungstrieb, wenn dem nicht so wäre.
Was mich bei dem Gedanken an meinen eigenen Tod allerdings in echte, rasende Panik versetzt, ist die Vorstellung am Ende – egal ob morgen oder in achtzig Jahren – zurückzuschauen und festzustellen, dass ich passiv wie ein Schlafwandler durch mein Leben gegangen bin. Gibt es etwas Schlimmeres, als mit dem letzten Atemzug zu erkennen, das alle Chancen, alle Möglichkeiten, alle Träume an einem vorbeigezogen sind, weil man nie den Mut hatte, nach ihnen zu greifen?
Es gibt so viele Dinge, die ich noch erleben will, Orte, die ich entdecken oder einfach wieder sehen möchte. Himmel, bei der Vorstellung nie wieder nachts in Venedig am Meer vor dem Dogenpalast zu stehen, steigen mir Tränen in die Augen. Ich kann mir doch nicht die Radieschen von unten ansehen, bevor ich alle Anne Rice Romane gelesen, die große Liebe gefunden und mindestens zwei Dutzend Bücher geschrieben habe. Sie wäre eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden, wenn sie tatsächlich mal was zu Papier gebracht hätte, scheint mir eine ziemlich beschissene Grabsteininschrift zu sein.
Wenn es etwas gibt, dass man meiner Meinung nach vor seinem Tod wirklich machen sollte, dann ist das; Leben. Nichts Schwereres und nichts Einfacheres als das. Ich höre so viele Menschen davon reden, dass sie ihre Träume und Wünsche „irgendwann mal“ in Angriff nehmen. Irgendwann mal, da sind sie dann die Person, die sie gerne sein würden und leben so, wie sie gerne Leben würden. Nur halt jetzt noch nicht. Jetzt ist ja noch nicht irgendwann. Das Dumme und gleichzeitig Wunderbare daran ist nur, dass das Leben jeden Tag stattfindet.
Ich weiß, es kostet Mut und manchmal extrem viel Kraft, das eigene Leben wirklich zu leben, und es nicht einfach wie die Landschaft hinter einem Zugfenster vorbeiziehen zu lassen. Aber vielleicht lohnt es sich ja, den Zug ab und zu anzuhalten, und ein Stück zu Fuß zu gehen.
© SophieMolloy 2023-09-13