Die Angst vor der Angst

Anna-Elena

von Anna-Elena

Story

Lilian lebt in ständiger Angst. Angst vor dem Autofahren, Angst vor Gewitter und Angst vor der Außenwelt. Ihre Angst ist so schlimm, dass sie sie regelrecht an die Wohnung fesselt. Seit mehr als drei Jahren schon hat sie keinen Fuß mehr vor die Haustür gesetzt. Obwohl Lilian die Sicherheit ihrer Wohnung nie verlässt, lässt sie die Angst nicht los. Bei den kleinsten Anzeichen von Regenwolken zieht sie die Vorhänge zu. Bei dem Geräusch von quietschenden Reifen stockt ihr der Atem. Und wenn der Lieferdienst an ihrer Tür klingelt, wird sie nervös.

Während Lilian an ihrem neuen Roman arbeitet, blickt sie immer wieder aus dem Fenster. Heute scheint sie sich noch weniger konzentrieren zu können als sonst. Ihre Aufmerksamkeit gilt weniger ihrem Computerbildschirm als vielmehr den kleinen Mädchen draußen, die laut lachend einen Fußball hin und her kicken. Sie spielen sehr nah an der Straße, denkt Lilian. Zu nah. Das war gefährlich. Das räumliche Sehvermögen von Kindern entspricht noch nicht dem der Erwachsenen. Sie können die Entfernung eines fahrenden Autos noch nicht richtig abschätzen. Passt denn niemand auf die Mädchen auf?

Unruhig steht Lilian auf und öffnet die Haustür. Während sie auf der Schwelle steht und den Mädchen beim Spielen zusieht, wächst ihre Angst. Doch bevor sie ihrer Angst nachgeben kann und die Tür wieder schließt, geschehen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein weißer Sprinter fährt um die Straßenecke. Der Fußball der Mädchen rollt über die Straße und eines der Mädchen rennt dem Ball hinterher. Mit plötzlicher Klarheit erkennt Lilian, was passieren wird, wenn sie jetzt nicht eingreift. Ohne zu überlegen, rennt sie auf die Straße, schnappt sich das Mädchen und kann gerade noch zur Seite springen, bevor der Sprinter sie beide erfasst hätte. Jemand schreit. Reifen quietschen. Der Vater kommt von irgendwoher angerannt und nimmt Lilian das Mädchen ab. Rufe werden laut, doch sie dringen nicht zu Lilian durch. Alles, was sie hört, ist ihr eigener, abgehackter Atem, das Bersten von Glas und das Donnergrollen, welches auf die Blitze folgt. Sie sieht ihre blutüberströmten Hände, die sich fest um das Lenkrad krallen. Sie fühlt den längst vergangenen Schmerz von mehreren gebrochenen Rippen und der Schädelhirnfraktur, die sie bei einem Autounfall vor über drei Jahren erlitten hat.

Eine Hand fasst sie an der Schulter und weist sie an, am Bordstein Platz zu nehmen. Lilian vertreibt die Erinnerungen und schaut in das blasse Gesicht des Fahrers. „Ich kann Ihnen nicht genug danken“, sagt dieser. „Sie haben ein großes Unglück verhindert. Sie sind eine Heldin.“ Lilian nickt. Drei Jahre nach dem schrecklichen Autounfall hat sie es endlich geschafft, ihre Wohnung zu verlassen. Das Mädchen ist unverletzt. Sie selbst ist unverletzt. Das Donnergrollen entspricht nur dem Widerhall ihrer Erinnerung. Lilian sieht hinauf und blickt in einen wolkenlosen Himmel und strahlenden Sonnenschein.

© Anna-Elena 2022-07-28

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