von Jamal Tuschick
„Marianne hat sich mir heute im Lotussitz gezeigt, in einem schulterfreien, weiten, hellen Kleid. Sie ist zierlich gebaut mit femininen Rundungen. Ihre Hände liegen ruhig auf ihren Knien. Ich sehe ihr zu, wie sie eine Hand zu ihrem Herzen führt, die andere auf ihren Unterleib. Ihre Haut hat eine leichte Sommerbräune.“ Musenzeit
Wir haben alle unsere Geheimnisse. Zu Mariannes Geheimnissen zählt ihr persönlicher Guru Rouven. Der Neuseeländer ist Marianne nach Europa gefolgt. Sie trifft ihn … tatsächlich heimlich, muss man sagen. Rouven wirkt extrem suggestiv auf seine Schülerin. Wir springen in eine Szene. Rouven sagt: Sobald deine evolutionäre Intelligenz freigeschaltet ist, bist du mit dem Universum verbunden. Plötzlich verstehst du: alle Reaktionen des Körpers haben genetische Wurzeln, die Milliarden Jahre zurückreichen. Fast alle genetischen Varianten haben ihren Ursprung in evolutionären Ereignissen lange vor dem Beginn der menschlichen Reise. Und genau hier setzt die Epigenetik an. Wenn man das versteht, kann man sich massiv umbauen. Marianne vernimmt ein Echo des Urknalls (an echo of the Big Bang) in ihrem inneren Raum.
Um an einer anderen Stelle weiterzumachen – Mariannes Hausaufgaben/Die besitzergreifende Liebe – Hannes und Marianne – zwar liebt er sie, aber zu seinen Bedingungen. Listig untergräbt er Mariannes äußere Autonomie-Befestigungen. Er begreift sich als Mineur der Liebe, aber wir wissen es besser. Sein besitzergreifendes Wesen schreibt ihm das Verhalten vor. Er gibt Marianne Hausaufgaben auf, er prüft ihre Bereitschaft, sich einzufügen in seine Welt. Aber natürlich ist Hannes nicht der einzige Stratege in diesem Spiel. Seit sich Marianne schwanger weiß, verstärkt sich ihr Verlangen, seine ganze Aufmerksamkeit zu ernten. Noch hat sie es ihm nicht gesagt.
Auch Rouvens Präsenz elektrisiert Marianne. Dass er sie seit Jahren still begehrt und ihr jederzeit den Vorzug vor jeder anderen Frau geben würde, erfüllt Marianne mit Stolz. Ja, auch Rouven kommt als Verursacher der gerade festgestellten Schwangerschaft in Betracht. … Sie fühlt sich ferngesteuert, während sie eine Pleinair-Yogastunde absolviert. Rouven korrigiert ihre Positionen. Noch balancieren beide gesichert auf dem Hochseil spiritueller Gymnastik. Noch liegen Rouvens Hände professionell auf Mariannes Wirbelsäule.
Eine Nachricht aus dem Randgeschehen – Blutwurst-Bernd ist tot. Er war das Kind seiner Oma. Sie zog ihn auf. Erst nach ihrem Tod wechselte er zu seiner Mutter und wohnte da über ihren Tod hinaus bis zum Schluss. Er war ein Fleischmann im Nordend, von Haus aus Koch. Jeden Abend verzehrte er – als die freundliche Harmlosigkeit in Person – wenigstens zehn Weizen in der Gaststätte Bierhans. Wenn es sein musste, heulte er mit den Wölfen. Doch lieber hielt er sich in der Nähe anderer Bedürftiger auf.
© Jamal Tuschick 2024-12-19