Sonntag 12:03. Wie jeden Sonntagnachmittag machte sich die 21-jährige Literaturwissenschafts-Studentin Emma auf den Weg, um ihrem Onkel in seiner Bibliothek auszuhelfen. Das prunkvolle Gebäude stand mitten auf dem Campus der Hauptuniversität, umringt von den einzelnen Instituten, sozusagen das Gehirn der Einrichtung. Emma genoss es sehr, in der Bibliothek Zeit zu verbringen. Oft blieb sie bis spätabends um zu lernen oder einfach nur durch die unzähligen Gänge des barocken Gebäudes zu streifen und in dem ein oder anderen Buch zu schmökern. Am frĂĽhen Nachmittag gab es aber immer eine Menge zu tun: mal kamen Studenten, um sich Nachschlagewerke auszuborgen, andere brachten die ausgeliehenen Werke zurĂĽck. Dann mussten die zurĂĽckgegebenen BĂĽcher natĂĽrlich wieder sorgfältig in die meterhohen Regale einsortiert werden. Gelegentlich wurden auch Ăśberarbeitungen alter Werke oder Neuerscheinungen von aufstrebenden Autoren vorbeigebracht. So auch diesen Nachmittag. Als Emma mit der Listung der diesmal ungewöhnlich umfangreichen Lieferung fertig war, lud sie den Stapel auf den in die Jahre gekommenen BĂĽcherwagen und setzte ihn mit einem beherzten Ruck in Bewegung. Im Gehen ĂĽberflog sie die Titel auf den BuchrĂĽcken um zu wissen, wo sie einzuordnen waren. Im Gang mit den SachbĂĽchern blieb sie als Erstes stehen, denn das oberste Buch auf dem Wagen trug den Titel „Politikwissenschaft – Analyse und Vergleich“. Gelangweilt stellte sie es zu den vielen anderen Analysen und ging weiter. Auch die nächsten drei Neuzugänge waren recht schnell einsortiert. Doch als sie „Ernährung und Leistungsfähigkeit“ vom Wagen hob, um es ins Regal zu schlichten, fiel ihr Blick auf das darunter liegende Buch. Irgendwas war anderes daran. Nicht nur, dass es kein langweiliges Sachbuch war, sondern es hatte auch etwas an sich, das Emmas Aufmerksamkeit erregte. Sie konnte nicht genau sagen, was sie daran so faszinierte. Ob es der dicke Ledereinband oder die zierliche, verschnörkelte Schrift, die die Vorderseite zierte, war oder auch etwas völlig anderes, sie wusste es nicht. Als sie nach dem eigentĂĽmlichen Buch griff, hielt sie plötzlich inne, ermahnte sich selbst erst die ĂĽbrigen zwei BĂĽcher einzuordnen und sich dann erst mit diesem Exemplar näher zu befassen. Das tat sie auch. Flink huschte sie durch die Regale, stellte die hundertsiebenundneunzigste Version der Weihnachtsgeschichte zu den anderen und beförderte anschlieĂźend noch „Lesen lernen leicht gemacht“ zu den LernbĂĽchern. Endlich lag nur noch „Wie ein einzelner Funke einen Flächenbrand, kann ein einziges Wort einen Sog auslösen“ vor Emma auf dem Wagen. Sie schob den BĂĽcherwagen zurĂĽck an seinen Platz. EhrfĂĽrchtig nahm sie das schwere Buch an sich und ging zu ihrem Lieblingsplatz: der groĂźe Ohrensessel bei den Mythen und Märchen. Sie setzte sich, schlug das Buch auf und begann zu lesen.
© Lisa-Marie Fellner 2022-08-30