Die böse Frau

Sophie Jones

von Sophie Jones

Story

Ich bin Bibliothekarin. Man mag es kaum glauben, da ich nicht dem Klischee der Hornbrillen-Lady mit Dutt entspreche, die grimmig zwischen Bücherbergen hervoräugt, laut „PSSSST“ schreizischt und bei Tageslicht in Flammen aufgeht. Ich bin jung, durchschnittlich attraktiv, meinem Alter entsprechend ungebildet, aber voller Hoffnung für unsere Zukunft. Diese Hoffnung löst sich allerdings schneller in Rauch auf, als mein Gehalt, wenn es bei Asos 20% Rabatt gibt. Der Grund für das Schwinden der Hoffnung, dass es jemals eine Zukunft für die Menschheit als Ganzes gäbe, nennt sich: antiautoritäre Mütter.

Wer glaubt, in einer Bibliothek ist es still, dunkel und geheimnisvoll, der war in den letzten 20 Jahren in Keiner. Nichts mit alten verstaubten Büchern, die die Geheimnisse ganzer Generationen in sich tragen und kalt, voller Spinnweben in der hintersten Ritze des Regals lauern. Es ist eine Bibliothek, keine heilige Grabstätte. Nein, es ist so hell und laut, dass ich meist mit Sonnenbrille und Kopfhörern auf Arbeit gehe, um das Gebrüll der Jeromes und Jacquelines zu übertünchen. Im Affengehege ist es ruhiger und gesitteter. Das liegt daran, dass die Affenmütter ihre Kinder ganz nach den Gesetzen der Natur erziehen. Bauen die kleinen Äffchen Scheiße, zack Kopfnuss und ohne Banane ins Bett. Bauen Jerome, Kevin und Chantal Scheiße, merken das die Mütter gar nicht. Ich schätze die Frauen in gestrickten Schuhen, Haremshosen und mit Nasenpiercings sind die Mütter, warum wären sie sonst immer zeitgleich mit den Kindern da und reden ab und zu mit ihnen? Im Flüsterton. Ohne nein. ‘Nein’ sagt man nicht. Die Kinder merken das selbst. Aha. Neulich sind ein paar der kleinen Rotzlöffel laut schreiend barfuß quer durch die Regale gerannt und haben Fangen gespielt. Was haben die Übermütter gemacht? Sie haben ihre Kinder erzogen. Wie? Indem sie gar nichts taten. Ich hingegen spürte, wie meine Synapsen kurz vor der Explosion standen und wies die Kinder in ihrer Lautstärke darauf hin, dass das kein Benehmen sei. „Das ist eine Bibliothek und kein Spielplatz, hier wird nicht gerannt.“ Wenn ihr letzten Dienstag gegen 16 Uhr ein Geräusch gehört habt, dass wie der Durchbruch der Schallmauer klang – jap, das war ich. Ich höre sie heute noch rennen. Wahrscheinlich sogar bis ins Grab. Die Kinder wären von mir eingeschüchtert gewesen, aber da sie noch nie in ihrem Leben zurechtgewiesen wurden, war es ihnen egal, was die verrückte Tante hinterm Tresen brüllte, die sie sowieso Duzen. Augenhöhe. Die Mütter waren not amused über meinen Ausbruch. Die böse Frau. Ja, wir sind alle verloren. Von diesen Kindern wird keines jemals meine Rente verdienen können. Aber das ist kein Problem, denn bis dahin schaffe ich es eh niemals, wenn das so weitergeht. Berufsunfähig, weil durchgedreht. Aber eigentlich tun mir diese Kinder leid. Sie können ja nichts dafür, es sind die Eltern. Und zack, liegt das Problem in meiner Generation. Sagte ich schon, dass wir verloren sind?

© Sophie Jones 2021-07-05

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