Die Brillenschlange

Bernd Schreiber

von Bernd Schreiber

Story

Zu unseren Haustieren gehören natürlich auch die Schlangen. Deshalb gibt’s zwischendurch mal eine Schlangengeschichte.

Es war vormittags und Marion war nicht da. Ich hatte den Schlangen frisches Wasser gegeben und ihr Kacki beseitigt. Ich stand etwas gelangweilt vor dem Terrarium: Es sollte was passieren. Nun sind Schlangen keine großen Unterhaltungskünstler, sie machen eigentlich stundenlang gar nichts. Da musste ich wohl selbst aktiv werden. Mir fiel ein, dass es im Zirkus oder Varieté so spärlich bekleidete Damen gab, die sich eine große Kobra um den Hals legten und damit rumtanzten. Das könnte ich doch auch probieren. Ich wählte Brutus für die Nummer, der im Gegensatz zu seinem Namen meist entspannt ist, versprach ihm bei Gelingen anschließend eine Maus und nahm ihn raus. Gut, er ist zwar keine Riesenkobra, sondern nur eine ungiftige, 1,4 Meter lange Kornnatter und ich war auch nicht spärlich bekleidet, aber dafür wackelte ich ein wenig mit den Hüften und drehte mich dabei, während ich Brutus an beiden Händen über meinen Kopf hielt und langsam um meine Schultern legte. Bis dahin war die Übung gelungen.

Dann kam der unerwartete Teil. Ich hatte keine Angst, dass er mir ins Ohr oder in die Nase biss (selbst wenn, das piekst wie eine Corona-Impfung), aber meine Augen hatte ich durch Aufsetzen meiner Lesebrille geschützt. Da wollte ich nichts riskieren. Brutus war erst etwas perplex, fing dann aber an – wie für Schlangen üblich –, das neue Terrain zu erkunden. Er zog sich langsam vom Hals aus an meinem Gesicht hoch, dann von oben hinter das Brillengestell beim Bügel und von da aus irgendwo anders lang um meinen Kopf. Ich spürte eine Spannung in der Brille und wollte sie lieber absetzen, denn die war geschliffen teuer, nicht so eine billige aus dem Supermarkt. Es ging aber nicht. Die Schlange war mit der Brille auf meinem Gesicht irgendwie verknotet: Brutus hatte meine Brille okkupiert und war damit zur Brillenschlange mutiert! Jeder stärkere Druck drohte die Brille zu verbiegen oder zu zerbrechen.

In dem Moment klingelte es an der Haustür, wahrscheinlich die Post. Ich ging durch den Flur, sah in den Spiegel und fragte mich, wie gerate ich in sowas rein? Ich sah aus, als würde ich einen schlecht gewickelten Kopfverband tragen, mittenmang hing meine Brille auf halb acht. Der eine Bügel ragte oberhalb meines Ohres in die Höhe und der andere war fest in der Umklammerung von Brutus. So konnte ich niemandem öffnen. Durch den Anblick wäre ich entweder zum Gespött des Dorfes oder der Psychopath von Wildsachsen geworden.

Ich ließ es klingeln, ging wieder ins Wohnzimmer zurück und versuchte mit ganz sanftem Druck das Gebilde langsam von meinem Kopf zu bekommen. Es gelang und ich legte es auf den Tisch, wo sich Schlange und Brille in Ruhe entknoten konnten. Ich bekam die Brille frei, konnte den Schaden selber wieder geradebiegen und setzte Brutus ins Terrarium zurück.

Ziel erreicht, der Vormittag war nicht langweilig.

© Bernd Schreiber 2021-07-04

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