von Gabriele Leeb
Ich stehe am Anfang der Brücke und blicke hinüber. Werde ich meine Sorgen los, wenn ich hinüber gehe? Erwarten mich Kummer und Elend, oder fängt dort drüben das Paradies an?
Sie wird die Brücke der Gnade genannt, hat mir der alte Mann erklärt. Er, der schon unzählige Male die Brücke überschritten hat. Er erzählte mir von prächtigen Gärten und Menschen, die heiter sind. Friedvolles Miteinander und liebevoller Umgangston herrschen vor. Harmonie liegt über der Stadt.
Wenn das alles stimmt, warum überlege ich überhaupt hinüberzugehen? Warum mein Zaudern? Vielleicht ist es ja von Mensch zu Mensch unterschiedlich? Je nach Einstellung zum Leben? Wenn man voller Liebe ist, dann findet man das Paradies. Wenn man voller Hass ist, dann landet man in der Hölle, in seiner eigenen ganz persönlichen Hölle.
Ich mache den ersten Schritt. Die Brücke scheint sehr stabil zu sein, obwohl sie von außen eher filigran wirkt. Sie ist sehr lang, sehe ich doch das andere Ende nicht. Der zweite Schritt, der dritte Schritt usw. Ich fühle mich jetzt irgendwie beschwingter. Ich werde mutiger und ich lege einen Zahn zu und schreite in großen Schritten weiter. Doch das Ufer ist noch immer nicht in Sicht. Und umkehren, nein, auf keinen Fall. Ich bleibe stehen und schaue in den Himmel. Ist da nicht ein Spalt am Himmelszelt? Mich dünkt, ich hätte einen großen Tisch gesehen, an dem viele Menschen sitzen und in der Mitte thront Gott, und Gott ist eine Frau! Ich schüttle meinen Kopf. Da ist doch nichts, meine Fantasie spielt mir einen Streich. Dort, ganz weit hinten, sehe ich das Ende der Brücke. Voller Freude beginne ich zu laufen, immer schneller und schneller. Endlich. Ich setze meinen Fuß auf eine blühende Wiese. Die Bienen summen und tausende bunte Schmetterlinge fliegen von Blüte zu Blüte. Es duftet nach frischer Luft und Jasmin. Vogelgezwitscher überall. Ein schwarzer Kater liegt im Gras und döst vor sich hin und Kinder spielen fröhlich mit einem roten Ball. Ihr Lachen tönt über die Landschaft. Ich fühle mich unendlich glücklich. Und ja, dann bin ich aufgewacht!
© Gabriele Leeb 2022-05-17