von neli
1939
Der Tod geht durch das Land. Ungerührt und unaufhaltsam verrichtet er seine Arbeit. Und dabei begegnet er ihr zum ersten Mal. Der 9jährigen Liesel Meminger. An einem bitterkalten Wintertag holt er ihren kleinen Bruder, während einer Zugfahrt, die die beiden Kinder zu einer Pflegefamilie bringen soll. Der Bruder wird in aller Eile mehr verscharrt als begraben, und da passiert es: Liesel findet im Friedhofsschnee ein kleines schwarzes Büchlein mit dem Titel: „Handbuch für Totengräber. In zwölf Schritten zum Erfolg. Wie man ein guter Totengräber wird. Herausgegeben von der Bayrischen Friedhofsverwaltung.“
Das Büchlein ist der Beginn einer beispiellosen Laufbahn. Was vorher noch dem Zufall geschuldet ist, wird später zu glasklarer Berechnung: Liesel nimmt fremde Bücher mit, wann immer sich ihr die Gelegenheit bietet.
Der grundgütige, warmherzige Pflegevater steht ihr in den nächtlichen Alpträumen bei und lehrt sie in vielen nachtschwarzen Stunden das Lesen, während die resolute Pflegemutter das Kind von einer Arbeit zur nächsten scheucht. („Halts Maul, Saumensch, sonst setzt es was!“)
Immer wieder kommt der Tod, der als Erzähler durch das Buch führt, in die Nähe des Mädchens und berichtet über ihr Heranwachsen in dem kleinen Vorort von München. Er beschreibt allerdings auch, wie es ihm selbst geht in einer Zeit, in der er bald auf der ganzen Welt verteilt seine Arbeit verrichten muss. Immer mehr, immer schneller von einem Ort zum nächsten fegt und die vielen Seelen aufsammelt. Trotzdem versucht er, so gut es geht, wenigstens die zarten Kinderseelen noch ein wenig zu wiegen und zu wärmen, bevor er sie mit nimmt aus einer Zeit, in der menschenverachtende Brutalität und Grausamkeit regieren.
Und auch wenn seither viele Jahre vergangen sind, gibt es für ihn immer noch viel zu tun. Er sagt: „Die Welt ist eine Fabrik. Die Sonne feuert sie an, die Menschen beherrschen sie. Und ich bleibe. Ich trage sie davon.“
Könnte man alle Bücher, die ich gelesen habe, zu einem Turm aufschlichten, ich bin mir sicher, er würde eine gigantische Höhe erreichen. Und ebenso genau weiß ich, dass „Die Bücherdiebin“ von Markus Zusak eines der berührendsten und nachdrücklichsten Bücher ist, das ich jemals in die Hände bekommen habe.
Weil es erzählt von Pogrom, Verfolgung und unmenschlicher Grausamkeit. Weil es in dieser entsetzlichen Zeit Menschen gab, die ihr eigenes Leben riskiert haben, um andere zu retten. Weil es nie ein Vergessen geben darf in Bezug darauf, was in diesem Krieg geschehen ist.
Und weil es auf fast sympathische Weise etwas klarmacht, das wir Menschen großmeisterlich zu verdrängen verstehen: die Allgegenwärtigkeit des Todes.
„Irgendwann werde ich über euch allen stehen, so freundlich, wie es mir möglich ist. Eure Seelen werden in meinen Armen liegen. Auf meiner Schulter wird eine Farbe ruhen. Sanft werde ich euch davontragen.“
Ich werde orange auf seiner Schulter leuchten. Und dann muss ich lächeln.
Trotzdem.
© neli 2021-11-11