Die Bucht der Krokodile

Andreas Trimmel

von Andreas Trimmel

Story

Kalter Nebel zieht ĂŒber den schroffen nahgelegenen, ohnehin bereits wolkenverhangenen Bergen auf und senkt sich langsam und unaufhaltsam zum Wasser herab. Mit sich bringt er einen Hauch Mystik, die sich – zwar unsichtbar, doch deutlich spĂŒrbar – ĂŒber die Bucht legt und sie einhĂŒllt. Bedrohlich, beĂ€ngstigend, unheilvoll.

Die Bucht. Geheimnisvoll und mysteriös ruht das GewĂ€sser in diesem uralten Kessel aus Stein, einem Relikt aus grauer Vorzeit, vor Beginn der Menschheit. Vieles liegt im Dunklen, kaum etwas hat je das Tageslicht erblickt. Die WasseroberflĂ€che ist trĂŒgerisch unbewegt, nur selten schwappen kleine Wellen ans Ufer. Sie geben allenfalls eine vage Andeutung dessen, was sich in den dunklen Tiefen so alles verbergen mag.

Ein Knabe, kaum Ă€lter als zehn, nimmt all seinen Mut zusammen und stakst vorsichtig ins Wasser. Schritt fĂŒr Schritt, Staks fĂŒr Staks tastet er sich vor, wĂ€hrend er die nĂ€here Umgebung genau beobachtet. Immer tiefer dringen seine drahtigen Beine ins Wasser ein und verschwinden darin. Sein Ziel ist eine Boje, nicht allzu weit entfernt. Er taucht bis zum Hals ins Wasser ein und schwimmt mit hektischen Bewegungen zu ihr hin, klettert rauf. Tief durchatmend ruht er sich aus.

Wieder etwas gefasst blickt er erneut aufs Wasser, auf die dem Ufer abgewandte Seite der Boje. Eine kleine Insel ist’s, die ihn anlockt. Doch er zögert, scheint unschlĂŒssig. Soll er’s wagen, soll er wieder uns Wasser gleiten und die nĂ€chste, doch etwas lĂ€ngere Etappe in Angriff nehmen? Er grĂŒbelt, scheint abzuwĂ€gen.

Schließlich wendet er seinen Blick zurĂŒck ans Ufer, wo sein Begleiter verharrt, und stellt die in diesem Moment fĂŒr ihn wohl essenziellste Frage: „Gibt es da Krokodile, die mich auffressen können?“

Der Begleiter runzelt nachdenklich die Stirn, legt den Kopf leicht schief, grĂŒbelt. Er kennt die Antwort, kennt sie ganz genau – und doch will sie ihm nicht leicht ĂŒber die Lippen fließen. Er lĂ€sst seinen Blick langsam suchend ĂŒber die Bucht schweifen. Kurz hĂ€lt er an einer Stelle inne, scheint sich bestĂ€tigt zu fĂŒhlen. Dann senkt er den Blick, atmet tief durch, seufzt, blickt wieder hoch, zum Knaben, und antwortet: „Du könntest GlĂŒck haben. Ich glaube, die machen heute Urlaub.”

Der Traunsee. Ein unheimliches GewÀsser.

© Andreas Trimmel 2021-07-07