Die Chaos-Mama vergeudet Lebenszeit

Jetzt ist er da – der Moment, wo du merkst, dass die Zeit wirklich läuft – in Form des gefürchteten Verordnungsscheines für die erste Gleitsichtbrille.

Als Trägerin einer schmalen Eierkopfform sind die meisten handelsüblichen Damenbrillen größer als dein Gesicht und könnten somit auch deinen Ohren zu einem besseren Überblick verhelfen. Die sinnvollste Lösung ist daher die Wahl einer Kinderbrille. Bei dieser Variante gestaltet sich das Finden eines altersentsprechenden und weniger farbenfrohen Modells als größte Herausforderung. Diese Challenge hast du vor 5 Jahren, auf der Suche nach der ersten Lesebrille, gemeistert und befunden, dass du, trotz Kinderbrille, erwachsen drein blicken kannst. Auch die Gläser der 3 darauffolgenden Kinderbrillen waren nicht aus der Fassung zu bringen.

Dein Mann fand in den letzten 6 Jahren wenig Gefallen an deinen Kinderbrillen. Da er aber so tapfer durchgehalten hat, ist es dir nun ein Anliegen, dass er bei der Auswahl der neuen Brille dabei sein soll, um wieder eine Frau zu bekommen, der er gerne in die Augen sehen will.

Da dieses Brillenfindungsunterfangen länger dauern wird, muss der 7-Jährige auch mit. Um seine Stimmung aufzuhellen, erklärst du ihm, wie wichtig es sei, dass er da ist, um seine ehrliche Meinung über dein künftiges Aussehen kundzutun. Schlussendlich liegen drei Modelle auf dem Tisch. Deine Wahl fällt gewohnheitsmäßig wieder auf eine blaue Kinderbrille. Dein Sohn wählt, nach kritischer Begutachtung, eine dreifärbige Kinderbrille mit orange-gestreiften Bügeln. Der Favorit deines Mannes ist eine blaue Damenbrille gemäß dem Kriterium der Vermeidung einer weiteren Kinderbrille auf der Nase seiner Frau. Es ist kurz vor 12. Die beiden Männer müssen das Optikergeschäft verlassen, um noch eine Besorgung zu machen.

Nun bist du alleine. Die Damen im Geschäft begutachten die 3 verbliebenen Modelle und geben ihren Senf dazu. Schlussendlich verlieren die beiden Kinderbrillen ihren Nasenplatz und du entscheidest dich, nun auch optisch, erwachsen zu werden.

Gestern holst du die neue Brille, setzt sie auf und fragst erwartungsvoll den 7-Jährigen nach seiner Meinung. Sein Daumen geht langsam in die Höhe, schwenkt plötzlich auf die Seite und dann brüllt er: „Du hast meine Lebenszeit verschwendet, das ist unfair!“ Irritiert wegen seines Wutausbruchs verlangst du eine Erklärung: Du hättest ihn mitgenommen, um eine Brille auszusuchen und hast doch eine andere genommen – folglich hat er wertvolle Lebenszeit umsonst beim Optiker vergeudet. Angeblich hast du selbst ihm das beigebracht.

Jetzt dämmert es dir. Wenn du den fünften Socken vom Boden aufhebst, predigst du, dass du es nicht einsiehst, wenn andere deine kostbare Lebenszeit verschwenden. Eigentlich großartig, dass die Botschaft bei ihm angekommen ist, schade nur, dass die Socken noch nicht im Wäschekorb gelandet sind.

Gleitend sehend beschließt du, dieses Motto vermehrt auch wieder für dich anzuwenden.